Wenn Sportler plötzlich die Seite wechseln
Adrian Lobe
Als Lazio Rom kürzlich den Innenverteidiger Oliver Provstgaard von Vejle BK für 4 Millionen Euro verpflichtete, war das eine kleine Sensation. Denn der dänische U21-Nationalspieler hat für sein junges Alter schon eine sehr wechselvolle Karriere hinter sich – und stand kurz vor dem Karriereende. 2020, mitten in der Coronapandemie, zog er sich bei einem U19-Match eine schwere Knieverletzung zu. Die Folge: acht Monate Zwangspause. Während Provstgaard zu Hause auf der Couch liegen muss-te, wendete er sich seiner Lieblingsbeschäftigung zu: der Playstation.
Fast alle Fussballprofis zocken gerne, doch der Däne beherrscht den Umgang mit der Konsole be-sonders gut – so gut, dass er es mit professionellen E-Sport-Profis aufnehmen konnte. 2021 erspielte er sich als krasser Underdog den Titel in der eChampions League, dem offiziellen E-Sport-Turnier der «Fifa»-Serie, das von der Uefa und dem Spielentwickler Electronic Arts ausgetragen wird. Und das ohne Sponsoren und vorherige professionelle «Fifa»-Karriere. Preisgeld: 75 000 Dollar.
Im Finale bezwang OliverPN, wie Provstgaard in der Fussballsimulation heisst, den italienischen Profi-E-Gamer Raffaele «Er_Caccia98 » Cacciapuoti sensationell mit 3:2. Provstgaard setzte bei seiner extrem offensiven Formation auf eine Mischung aus Legenden und aktuellen Weltstars – neben Ronaldo und Pelé stürmten Mbappé und Neymar, unterstützt von Ruud Gullit, im Mittelfeld.
Von der Konsole auf den Rasen
Der Turniersieg machte den damals 17-Jährigen in der Gamer-Szene über Nacht berühmt. Der Däne hätte ein erfolgreicher E-Gamer werden können – er hätte vor Tausenden Zuschauern in ausverkauften Hallen spielen und Millionen verdienen können. Doch nach seiner Genesung entschied sich Provstgaard, den Fokus wieder auf den realen Fussball zu legen. Weg vom Bildschirm, raus an die raue Ostseeluft. Stollenschuhe, matschige Plätze, Konditionseinheiten im süddänischen Nieselregen.
Das harte Training zahlte sich aus. 2022 feierte Provstgaard für Vejle BK sein Profidebüt – und zeigte, dass er nicht nur Qualitäten an der Konsole, sondern auch auf dem Platz hat. Kurze Zeit später wurde er zum Captain der dänischen U21-Nationalmannschaft berufen. Schliesslich kam das Angebot der Biancocelesti. Von der Playstation in die Serie A – was für eine Geschichte!
Vom Rasen aufs Rad
Provstgaard ist nicht der einzige Profi, der in verschiedenen Sportarten erfolgreich war. Der belgische Vuelta- und Olympiasieger Remco Evenepoel etwa spielte in der Jugend von RSC Anderlecht und PSV Eindhoven Fussball und war sogar Kapitän der belgischen U16-Nationalmannschaft, bevor er sich für den Radsport entschied. Der 1,71 Meter grosse Evenepoel, der bei PSV mit dem heutigen Liverpool-Profi Cody Gakpo ausgebildet wurde, war kein auffälliger Spieler, wie sich sein langjähriger Trainer Stéphane Stassin einmal erinnerte, aber er hätte sicher einen passablen Linksverteidiger abgegeben, von denen es auf dem Markt nicht allzu viele gibt.
Vor dem Mannschaftsbus demonstrierte der Radprofi während der Rundfahrt Tirreno-Adriatico im März seine Fussball-Skills, indem er in Rennradschuhen mit einem Ball jonglierte. Doch der junge Remco setzte sich lieber auf den Sattel, als die Fussballschuhe zu schnüren, und wenn man sieht, was für ein famoser Klassikerspezialist aus dem schmächtigen Buben geworden ist, war das rückblickend die richtige Entscheidung.
Auch der britische Sprinter Adam Gemili hätte ein passabler Fussballprofi werden können. Acht Jahre lang trainierte er in der Jugendakademie des FC Chelsea gemeinsam mit den späteren Profis Jamal Blackman, Todd Kane und Ruben Loftus-Cheek. Schon früh zeigte sich seine Athletik, das pfeilschnelle Nachwuchstalent rannte seinen Gegenspielern davon. Doch die ständige Pendelei von seinem Elternhaus in Dartford nach London war auf Dauer ermüdend und beeinträchtigte seine Schulleistungen. Im Alter von 15 Jahren verliess er die Akademie und wechselte zu Reading. Schliesslich kam er 2011 als rechter Verteidiger zum damaligen Viertligisten Dagenham & Redbridge, der ihn nach Thurrock auslieh. Dort erhielt Gemili wegen seiner Schnelligkeit den Spitznamen «Road Runner».
Der Sohn einer iranischen Mutter und eines marokkanischen Vaters stand kurz davor, einen Vertrag als Fussballprofi zu unterschreiben – bis ein Betreuer im Leichtathletikverein sein Talent erkannte. Eigentlich wollte der Fussballer dort nur Sprints trainieren. Doch die Athletiktrainer sahen einen Rohdiamanten funkeln – und schickten ihn auf die Tartanbahn. Nur wenige Monate, nachdem er die Fussballschuhe an den Nagel gehängt hatte, wurde Gemili Juniorenweltmeister über 100 Meter – und sprintete mit der Weltelite bei Olympia in London.
Mbappé, das Sprinttalent
Im Fussball gibt es ja viele schnelle Leute. Kylian Mbappé, einer der schnellsten Spieler der Welt, erreicht eine Spitzengeschwindigkeit von 38 km/h. Das ist schneller als Usain Bolt bei seinem Weltrekordlauf von 9,58 Sekunden bei der WM 2009 in Berlin. Im vergangenen Jahr schlug die jamaikanische Leichtathletik-Legende ein Sprintduell gegen den Real-Star vor – Mbappé stimmte einem Charity- Rennen zu, wobei er sich selbst geringe Chancen einräumt.
Experten haben ausgerechnet, dass Mbappé eine Zeit von 10,9 Sekunden auf 100 Meter laufen könnte. Zum Showdown kam es bislang noch nicht. Ein antrittsschneller Fussballer ist nicht automatisch ein Weltklassesprinter, der das Tempo halten kann. Und ein Sprinterkönig ist nicht automatisch ein guter Fussballer. Bolts Fussballerkarriere verlief denn auch eher mässig – zwar zeigte er bei einem Probetraining bei Borussia Dortmund 2018 mit einem sauberen Kopfballtor, dass er mit dem Ball durchaus umgehen kann. Beim australischen A-League-Profiklub Central Coast Mariners reichte es aber nur für ein Kurzzeitengagement.
Burghardt sehr vielseitig
Dass man parallel in zwei Disziplinen erfolgreich sein kann, beweist Alexandra Burghardt. Die deutsche Sprinterin gewann bei den Olympischen Winterspielen 2022 in Peking die Silbermedaille im Zweierbob und holte bei den Sommerspielen 2024 in Paris die Bronzemedaille in der 4×100-Meter-Staffel der Frauen. Ein ähnliches Kunststück gelang der amerikanischen Leichtathletin Lolo Jones, die 2008 und 2010 Hallenweltmeisterin im Hürdenlauf und 2013 als Anschieberin Bob-Mannschaftsweltmeisterin wurde. Ehemalige Leichtathletinnen sind im Bobsport sehr verbreitet.
Auch nach der aktiven Laufbahn öffnen sich neue Türen. Der tschechische Fussball-Torhüter Petr Äech behielt den Kopfschutz auf und wechselte nach seinem Karriereende zum britischen Eishockey- Klub Belfast Giants. Der französische Skirennläufer Luc Alphand tauschte Schnee gegen Sand und wurde bei der Rallye Dakar 2005 Zweiter in der Gesamtwertung. Und Rapid-Wien-Legende Toni Fritsch («Wembley-Toni»), der 1965 als 20-Jähriger die österreichische Fussballnationalmannschaft zum 3:2-Auswärtssieg gegen England schoss, machte als Kicker in der NFL Karriere und holte 1972 mit den Dallas Cowboys den Super Bowl – bis heute ist der Österreicher der einzige Fussballer, dem es gelungen ist, die höchste Trophäe im American Football zu holen. Vielleicht gewinnt Oliver Provstgaard ja irgendwann auch noch mal die echte Champions League. Auf der Playstation dürfte er es schon simuliert haben.
Nicht jede Profikarriere verläuft linear. So manches Nachwuchstalent, das auf eine Fussballerkarriere hinarbeitet, landet später im Radsport oder in der Leichtathletik.
38 km/h
Fussballstar Kylian Mbappé erreichte eine Spitzengeschwindigkeit von 38 km/h.