«Wir dürfen nicht mit Zuschüssen Ineffizienzen in Beton verewigen»
Daniel Burger macht sich seit längerem für einen Wandel in der Gesundheitsversorgung stark. Im Gespräch schildert er, warum seiner Ansicht nach die aktuellen Strukturen überholt sind, die Ambulantisierung unvermeidlich ist und Hausärzte gestärkt werden müssen.
Rafael Muñoz
Herr Burger, Sie haben bereits vor über zehn Jahren auf die Probleme hingewiesen, die bis heute aktuell sind: Grundversorger ohne Nachfolge, Finanzierung der Spitäler, flexible Ausbildungsmodelle. Ist das nicht zum Verzweifeln?
Doch, doch, genau das ist das Problem. Wir haben sogar schon vor über 20 Jahren in Ärztekreisen diskutiert, dass ein Spital in dieser Region anstelle von etwa vier, fünf, die wir jetzt haben, ausreichen würde und qualitativ sowie kostentechnisch besser wäre. Wir ha-ben gesehen, dass mit Beton Strukturen fixiert worden sind, die der medizinischen Entwicklung nicht mehr folgen konnten. Das führt dazu, dass wir jetzt einen Haufen Spitäler haben, die an sich zu klein sind, um langfristig zu überleben. Noch wichtiger ist mir aber der Hinweis, dass für die Bevölkerung vor allem der Grundversorger-, Kinderarzt- und Psychiatermangel das grösste Problem ist. Das mit den Spitälern betrifft sie nicht unmittelbar. Primär versuchen sie, für ihr Kind einen Termin zu finden, ganz banal bei einem Kinderarzt für eine Entwicklungskontrolle oder bei einem Kinderpsychiater – da haben Sie keine Chance.
Gleichzeitig ist das Wort Spitalabbau ein Reizwort, bei dem die Emotionen hochgehen.
Absolut, es war ja früher so, dass man gesagt hat: Jeder Regierungsrat, der ein Spital zugemacht hat, ist im Kanton nicht mehr gewählt worden. Das ha-ben wir im Kanton St. Gallen vor vielen Jahren gesehen. Heute ist gerade im Kanton St. Gallen der amtierende Regierungsrat Bruno Damann derjenige, der explizit sagt: Wir müssen interkantonal zusammenarbeiten und Standorte abbauen, wenn sie nicht effizient und finanzierbar sind.
Sie kritisieren die ineffizienten Strukturen. Was meinen Sie damit?
Es sind verschiedene Faktoren. Wir ha-ben einen Investitionsstau bei den Spitälern. Viele müssten Geld in die Hand nehmen, um neue Strukturen aufzubauen und sie an die medizinische Entwicklung anzupassen, zum Beispiel an die Ambulantisierung. Da braucht es eine andere Infrastruktur mit schlanken «Units». Das Problem ist, dass wir die falschen Strukturen haben. Dann haben wir den Fachkräftemangel. Wir können uns die vielen Spitäler gar nicht leisten, weil wir sie nicht mit Personal füllen können. Dann haben wir Qualitätsprobleme wegen der geringen Fallzahlen. Das sind Faktoren, die eigentlich dafür sprechen, dass man zentralisieren soll. Ein weiteres Problem ist, dass die Gewinnmarge der Spitäler aufgrund der erwähnten Gründe im Sinkflug ist. Es gibt nur noch etwa zehn Spitäler in der Schweiz, die eine Gewinnmarge erzielen, die gesund ist – um Geld zurückstellen und Investitionen tätigen zu können. Die meisten können das nicht mehr und werden in Zukunft ein Finanzierungsproblem ha-ben. Dann gehen sie zu den Regierungen und machen die hohle Hand. Die Gefahr ist: Wir dürfen nicht mit kantonalen oder kommunalen Zuschüssen Ineffizienzen in Beton verewigen. Das ist genau das, was passiert ist bis vor kurzem.
Neulich sorgte eine Studie für Aufsehen, dass es bis 2040 im Kanton Schwyz nur Ambulatorien und keine Spitäler mehr geben wird.
Es gibt jetzt schon Länder, wie zum Beispiel die USA, wo weit über 75 Prozent aller Eingriffe ambulant durchgeführt werden. Bei uns ist das ein verschwindend kleiner Teil. Natürlich braucht es nachgelagerte Strukturen, die man aufbauen muss. Aber nicht in Form von grossen Spitälern mit grossen Zimmerabteilungen. Die Medizin macht Fortschritte. Wir haben technisch andere Möglichkeiten als früher. Heute machen wir fast alles minimalinvasiv. Die Zeiten der grossen Schnitte sind vorbei.
Warum braucht es eine Zentralisierung?
Die Patienten sind bereit, einen längeren Weg zu gehen für eine Spezialversorgung. Wenn Sie einen Herzkatheter brauchen und die Wahl haben, das hier im Regionalspital zu machen oder in einer Zentrumsklinik in Zürich, die das oft macht und ausgerüstet ist für Spezialfälle, wenn etwas schief geht – wo gehen Sie hin? Ich sage nicht, dass man alles in Zürich machen muss. Was ich meine, ist, dass man eine Spezialversorgung, die einen Case-Load braucht, um Qualität auszuweisen, dass man die zentralisiert. Darum bräuchte man die interkantonale, überregionale Spitalversorgung. Ich habe im September letzten Jahres eine Interpellation bei der Regierung zu diesem Thema eingegeben. Man verweist dann immer auf das 2016 eingeführte, gut funktionierende Psychiatrie-Konkordat mit den Kantonen Uri und Zug.
Warum lässt sich das nicht vergleichen?
Es ist ein Erfolgsmodell, das sehr gut funktioniert. Es hat viele Strukturen verschlankt. Aber in der Akutsomatik passiert das nicht. Die letzten Leistungsaufträge für die neue Spitalplanung ab diesem Sommer sind nicht interkantonal vergeben worden. Man hat sich nicht mit St. Gallen, Glarus, Zürich abgesprochen. Für die Regierungen ist es natürlich schwierig, weil wir 26 Kantone in diesem Land und demzufolge 26 verschiedene Gesundheitsgesetze haben. Dann kommt so-fort die Frage: Ja, soll es nicht der Bund machen? Nein, der Bund soll es definitiv nicht machen. Ich bin der Meinung, man muss das in den Gesundheitsregionen machen, interkantonal. Zuerst innerkantonal natürlich, dann interkantonal in den Regionen.
Nun zieht der Bund aber doch die Schrauben an und droht: Stimmt euch innerhalb der Versorgungsregionen ab oder wir übernehmen.
Ja, es gibt diesen Vorstoss von der Ständerätin Esther Friedli, die Spitalplanung durch interkantonale Spitallisten zu stärken. Das ist der richtige Weg. Ich glaube dennoch: Man muss diese Planung in der Region lassen.
Ist es kein Widerspruch, dass es mehr Ambulatorien geben soll und trotzdem mehr Allgemeinärzte gebraucht werden?
Nein, ich sehe da keinen Widerspruch. Die Ambulantisierung bedient schlankere Strukturen. Ich brauche weniger Pflegeleistung, als wenn ich das stationär mache. Das ist auch im Sinne der Patienten, die nicht unbedingt gerne ins Spital gehen. Wir müssen das verlagern. Manpower oder Womanpower aus dem stationären Bereich wegnehmen und in den ambulanten Bereich bringen. Und Grundversorger ha-ben wir viel zu wenig. Wir haben in der Schweiz 0,8 Hausärzte pro 1000 Personen. WHO und OECD empfehlen etwa 1 auf 1000. In den Städten und Agglomerationen erreichen wir das. Aber auf dem Land sind wir bei 0,4. Dort ha-ben wir deutlich zu wenig Grundversorger. Der Grundversorger ist die ers-te Anlaufstelle für die Leute. Der günstigste, effektivste und effizienteste Weg ist der Weg zum Hausarzt. Hausärzte und die Hausarztstruktur müssen wir stärken.
Das heisst, sinnvoller wäre es, Personal aus den Spitälern abzuziehen und die Grundversorgung zu stärken?
Genau das ist mein Vorschlag. Wir brauchen Mediziner in der Grundversorgung, nicht in der Spezialversorgung. Hört ein alter Hausarzt heute auf, braucht es zwei bis drei Junge, die das übernehmen. Keiner arbeitet mehr 60 oder 65 Stunden die Woche. Teilzeit, Familie, Work-Life-Balance – wir brauchen viel mehr Leute. Stichwort Feminisierung: Die Medizin ist ein Frauenberuf. An der Uni sind zwei Drittel der Studenten Frau-en. Die wollen irgendwann eine Familie planen. Wir brauchen also sowieso mehr Leute. Und obwohl wir die Ausbildung in der Schweiz hochgefahren haben, hat sich der Anteil der im Ausland ausgebildeten Ärzte seit 2014 von 31 auf heute 41 Prozent erhöht. Bald sind fast die Hälfte der Doktoren, die im ambulanten Bereich tätig sind, aus dem Ausland. Das ist ein gewisses Risiko, wenn im Ausland die Bedingungen für die Ärztinnen und Ärzte plötzlich besser werden und viele zurückgehen. Dann haben wir ein veritables Problem. Also müssen wir selber mehr ausbilden.
Was könnte man tun, um den Beruf des Grundversorgers attraktiver zu machen?
Heute haben wir die Situation mit dem Numerus clausus. 70 Prozent bestehen den Test nicht. Die Einstiegshürde ist extrem hoch, und die Kriterien sind in meinen Augen die falschen. Was zum Beispiel überhaupt nicht abgefragt wird, ist soziale Kompetenz. Ich meine, als Ärztin oder als Arzt, da müssen Sie soziale Kompetenz und Empathie an den Tag legen. Der Numerus clausus ist Gott sei Dank jetzt beerdigt worden vom Parlament, aber eben, die Messlatte aufgrund falscher Kriterien zu hoch zu legen, ist sicher falsch. Dann braucht es verbindliche Hausarzt-Curricula. Das heisst, die Spitäler müssen eigentlich verpflichtet werden, dass sie junge Ärztinnen und Ärzte in der Breite ausbilden: Medizin, Chirurgie, Gynäkologie, ein wenig Bildgebung, ein wenig HNO, ein wenig Dermatologie – dass die nachher Hausärzte werden. Und nun muss ich dem AGS (Amt für Gesundheit und Soziales, Anm. d. Red) ein Kränzli winden: Das Assistenzarztprogramm, das wir mit dem AGS zusammen erweitern und aufgleisen
konnten. Mit dem Assistenzarzt-programm versuchen wir, junge Ärzte auf Hausarztmedizin zu trimmen und auch dafür zu sorgen, dass sie dann auch da bleiben.
Das Programm läuft jetzt?
Das kommt jetzt und ist in den Startlöchern. Der Kanton beteiligt sich an den Kosten und die Spitäler auch. Das allein reicht nicht, ist aber sicher ein Punkt. Nebst den Spital-Hausarzt- Curricula. Das Nächste ist, Anreize zu schaffen, damit die Ärzte auch aufs Land gehen. In Vorderthal oder im Muotathal, da muss die Standortattraktivität gesteigert werden, etwa mittels Startkrediten durch die Gemeinde. Oder dass die Kommunen sagen: Wir wollen, dass ein junger Arzt, eine junge Ärztin in die Grundversorgung kommt, und stellen eine Wohnung zur Verfügung zu einem reduzierten Mietzins oder geben ein zinsfreies Startkapital. Und man muss einfach die administrative Belastung der niedergelassenen Ärzte möglichst tief halten. Aber auch da muss ich sagen, da stossen wir bei der Regierung auf offene Ohren. Früher hat ein Arzt vielleicht 40 Patienten am Tag gesehen und hatte eine Stunde Administratives. Heute sieht er 20 Patienten und hat drei bis vier Stunden administrative Arbeit. Das kann es einfach nicht sein.
«Der Grundversorger- und Kinderarztmangel ist das grösste Problem.» «Der Bund soll es definitiv nicht machen.» «Der günstigste, effektivste und effizienteste Weg ist der Weg zum Hausarzt.»