Dank ihm spricht der «SchellenUrsli» jetzt sogar Isländisch
Ayla Martis
Mit leiser Stimme liest Björn Oddsson Zeile um Zeile aus seinem Buch «Bangsimon Bjalla» vor, isländisch für «Schellen-Ursli». Manche Stellen betont er stärker, manche schwächer: «Hátt uppi í fjöllum í fjarska er.» Oddsson sitzt auf einem Ledersofa in seinem Wohnzimmer in Rapperswil-Jona. Hier hat der Isländer nach der Pensionierung das Schweizer Kinderbuch «Schellen-Ursli» ins Isländische übersetzt, getüftelt und gedichtet. Seine Geschichte mit dem Buch begann aber schon viel früher.
«Die Glocke wurde zu meinem Markenzeichen»
Oddssons Doktorfeier fand an einem frischen Frühlingsabend im März 1984 statt. Oddsson war nach seiner Matura in Island in die Schweiz gekommen, um an der ETH Zürich Geologie und später Ingenieurgeologie zu studieren – danach wollte er in sein Heimatland zurückkehren. «Bei der Doktorfeier haben mir meine Kommilitonen eine Schweizer Glocke geschenkt, als Andenken. Ein Prachtstück aus Messing mit bunt geschmücktem Lederband», erinnert sich der 73-Jährige.
Die Glocke begleitete ihn nach Island und nach fünf Jahren mit Frau und Tochter zurück in die Schweiz, weil es in seinem Heimatland damals kaum Jobmöglichkeiten für Ingenieurgeologen gab. Hier stieg er in ein Geologiebüro in Rapperswil ein, befasste sich mit der Projektierung des Rapperswiler Seetunnels. Nebenbei unterrichtete Oddsson Geologie und Geotechnik an der FH Rapperswil, später OST. Dann erhielt er einen Anruf vom ETH-Rektorat: «Ich sollte die Ausbildung der Geologen in der Schweiz untersuchen und praktische Weiterbildungsmöglichkeiten vorschlagen», erzählt er. Schliesslich durfte er die Kurse einführen und 25 Jahre lang leiten. Stolz fasst er zusammen: «Ich kann das sagen, ohne rot zu werden: Ich bin jetzt wahrscheinlich der am besten ausgebildete Geologe der Schweiz.» Gleich bei seinem ersten Weiterbildungsseminar hatte Oddsson eine Idee: Er nahm seine Glocke mit. «Von da an war die Glocke immer dabei und wurde zu meinem Markenzeichen. Ich ha-be damit die Leute aus der Pause reingeholt, den Morgen eingeläutet und Ruhe in den Saal gebracht», erzählt er und lächelt. «Da hat mich irgendwann jemand Schellen-Ursli genannt.» Und der Spitzname gefiel Oddsson.
«Meine Mutter hat mich als Kind immer Bangsimon genannt. Das heisst auf Isländisch kleiner Bär (Björn), also Ursli», erklärt er. So begann Oddsson, Prüfungseinladungen an seine Kursteilnehmenden damit zu signieren: «Björn alias Schellen-Ursli».
Jeder Isländer, der etwas auf sich hält, schreibt ein Buch
Als Oddssons Kinder Jahre später das Kinderbuch «Schellen-Ursli» geschenkt kriegten, erkannte er es sofort. Er be-schloss: «Wenn ich pensioniert bin und Zeit habe, übersetze ich den Schellen-Ursli. Das war einfach so eine Schnapsidee. » Denn unter Isländern gebe es eine gewisse Ambition, erklärt Odds-son: «Jeder, der etwas auf sich hält in Island, der verfasst ein Buch. Und mein Buch ist jetzt der Schellen-Ursli.» Am 1.Dezember2016, dem isländischen Nationalfeiertag, wurde Odds-son pensioniert. Am selben Tag zog er die deutsche Version des «Schellen-Ursli» aus seinem Regal und machte sich an die Arbeit. «Ich bemerkte etwas verblüfft, dass das ganze Buch gedichtet ist. Das hatte ich vergessen», erinnert er sich. Das verkomplizierte sein Projekt, denn Island habe eine sehr grosse Literaturtradition.
Die berühmten isländischen Sagas wurden im Mittelalter in Form von Gedichten niedergeschrieben – und diese uralte Dichtung sei äusserst komplex. Er klappt ein isländisches Lehrbuch auf: Neben einfachen Paarreimen müssen im Isländischen mehrere Wörter über Zeilen hinweg durch gemeinsame Anfangsbuchstaben verbunden werden, dazu kommt eine bestimmte Betonung der Wörter, die rhythmisch ausgesprochen werden. Die Königsform sei dann, wenn das Gedicht in mehrere Richtungen gelesen werden kann oder sich beispielsweise auch von hin-ten nach vorne reimt.
Oddsson legt jetzt «Schellen-Ursli» vor sich hin und öffnet daneben die isländische Version. «Der Inhalt stimmt überein, aber in der Form habe ich das Original wohl übertroffen», sagt er selbstbewusst. Mit seinem Finger fährt er die Zeilen nach, liest vor und übersetzt frei zum Vergleich.
Eine Geschichte, in der sich jeder wiederfindet
Auch wenn Oddsson sich seit seiner Schulzeit nicht mehr mit den Dichtungsregeln auseinandergesetzt hat-te, schrieb er den ersten Entwurf in nur einem Monat. Dann hiess es schleifen, jedes Wort und jeden Satz – zum Schluss zog er einen erfahrenen isländischen Dichter zu Hilfe, der aber nur noch Kleinigkeiten anpasste. Stolz ging Oddsson schliesslich zu Orell Füssli. Er wollte sein Buch drucken und verlegen lassen. Doch: Sie lehnten ab. Und auch die isländischen Verlage zeigten kein Interesse. Das war vor acht Jahren. «Ich fing dann an, mich etwas für die Hintergründe des Buchs zu interessieren », erzählt Oddsson. «Schellen-Ursli » wurde von Selina Chönz aus Mangel an rätoromanischen Kinderbüchern geschrieben und von Alois Carigiet illustriert. Es erschien erstmals 1945 und erzählt die Geschichte vom Bündner Brauch «Chalandamarz», wo Kinder durch lautes Glockenläuten den Winter vertreiben. «Das Buch handelt von Ausgrenzung und Mobbing, da der Ursli eine so kleine Glocke erhält, dass er von allen ausgelacht wird», so Odds-son. Das sei Thema überall auf der Welt. Und auch die Dunkelheit im Winter sei gerade Isländern und Isländerinnen bekannt, die oft monatelang kaum Sonne sehen. Passend zum «Chalandamarz » feiert Island immer am dritten Donnerstag im April den ersten Sommertag, erzählt er. «Im Buch geht es aber nicht nur um Vorfreude auf Frühling und Sonne», fährt er weiter: «Sondern auch um die Hoffnung auf bes-sere Zeiten nach dem Krieg.» Selina Chönz begann das Buch 1939, gerade als der Weltkrieg ausbrach. Auch wenn die Schweiz nicht direkt am Krieg beteiligt war, so litten doch viele Menschen hier unter Hunger und Angst. «Damit hat das Buch einen sehr aktuellen Bezug zum momentanen Weltgeschehen », so Oddsson.
Er selbst habe sich in der Geschichte wiedergefunden, erzählt er weiter: «Das heisst, bei Problemen oder Gegenwind die Sache in die eigenen Hände zu nehmen und zu einem guten Ende zu führen.» Und auch Chönz habe das Buch als ihre eigene Lebensgeschichte angesehen, so Oddsson: «Vielleicht ist die Pointe, dass es die Geschichte vieler Menschen ist.» Also beschloss er, es noch einmal zu versuchen, ging zu Orell Füssli, erzählte nicht nur von seiner persönlichen Motivation, sondern von der Bedeutung des Buchs als Schweizer Kulturerbe, den Bezügen zu Island, Frühling, Mobbing und Krieg. Und dieses Mal, sieben Jahre später, stimmte Orell Füssli zu, 1000 Exemplare von «Bangsimon Bjalla» zu drucken. Das Ganze finanzieren und einen Verlag gründen musste Oddsson selbst, doch die grösste Hürde war geschafft.
Er lächelt, als er jetzt das Buch in seinen Händen zuklappt und vor sich auf den Tisch legt. «Ich bin sehr stolz darauf.» Er erzählt von seinem zweijährigen Enkel. Vor gut einem Jahr, als das Buch fertig war, habe ihm Odds-son das isländische «Schellen-Ursli» gezeigt und vorgelesen, die Bilder erklärt. «Es hat ihn so interessiert, der wollte an Ostern gar nicht erst Eier suchen. Das hat mich sehr gefreut», erinnert er sich. Der Grossteil der Auflage von «Bangsimon Bjalla» sei jetzt in Island, in Buchhandlungen und bei Freunden von Oddsson, in der Schweiz habe er noch um die 100 der Bücher. Sein schriftstellerisches Schaffen sei damit aber noch nicht vorbei: Aktuell schreibt er an seinen Memoiren und vielleicht übersetze er irgendwann auch das zweite Buch von Chönz, «Flurina und das Wildvögelchen ». Jetzt nimmt er aber zuerst noch einmal «Bangsimon Bjalla», schreibt eine Widmung auf die erste Seite und signiert: «Herzlich, Björn Oddsson alias Schellen-Ursli».
Nach seiner Pensionierung übersetzt ein Isländer aus Rapperswil-Jona das Schweizer Buch SchellenUrsli in seine Sprache. Dahinter stecken komplizierte Dichtungsregeln und eine persönliche Geschichte.