Gremauds WM-Gold ist auch ein Sieg im Wettlauf gegen die Zeit
Sie bangt wegen einer Gehirnerschütterung bis kurz vor der WM um ihre Teilnahme. Sie kommt verunsichert ins Engadin, ist ungewohnt nervös - und wird erneut überlegen Weltmeisterin: Mathilde Gremaud.
Klar, Mathilde Gremaud profitierte am Freitag auf den furchteinflössend grossen Schanzen und Rails auf dem Corvatsch von der Absenz einiger ihrer härtesten Konkurrentinnen. Eileen Gu, Tess Ledeux und Kelly Sildaru fehlten alle verletzungsbedingt. Doch auch Mathilde Gremaud war nicht in bester Verfassung. Auch sie, die Titelverteidigerin, zweifelte bis kurz vor dem WM-Beginn an ihrer Teilnahme. Auch sie hatte sich im Vorfeld verletzt. Doch auf den letzten Drücker ist sie wieder fit geworden.
Woran sie litt, hatte Gremaud vor dem Wettkampf offengelassen. Passiert sei es im Februar beim freien Fahren während ihrer Wettkampfpause. Wochenlang sei sie zum Nichtstun gezwungen gewesen. Sie werde am Start sein, wisse aber nicht, auf welchem Level sie sei, sagte sie. Nach dem überlegenen Triumph schuf sie nun Klarheit: Es handelte sich um eine Gehirnerschütterung.
Mehr als bloss Schmerzen
Delikat sei das Ganze gewesen. «Schmerzen am Becken nach einem Sturz gehören dazu. Nacken- und Kopfverletzungen hingegen sind sehr heikel, zumal es nicht meine erste Verletzung dieser Art war. Jede weitere ist gefährlich, je älter man wird umso mehr. Da war Vorsicht geboten. Die Angst vor einem zweiten ‘Impact’ hat mich lange gehemmt», erklärte Gremaud. Erst ab letzter Woche sei es besser geworden, erst jetzt habe sie wieder befreit fahren können.
Anstatt sich während ihrer Wettkampfpause ideal auf die Heim-WM vorzubereiten, verkamen die letzten Wochen zum Wettlauf gegen die Zeit. Einem Wettlauf im Stillstand quasi, weil die Gehirnerschütterung nachhallte, es auf keinen Fall zu einer weiteren kommen durfte. «Bis vor Kurzem konnte ich sehr wenig machen – kein Schneetraining. Es war vor allem ein Warten und Erholen. Ich musste sehr auf die Signale des Körpers achten. Sie gaben vor, was ich tun konnte und was nicht», so Gremaud. Es war wenig, «aber immerhin konnte ich ins Gym».
Nur eine ist auf Augenhöhe
Die letzten fünf Wochen seien «extrem schwierig» und «voller Auf und Abs» gewesen. Auch die Rückkehr auf die Ski verlief in der Woche vor dem Slopestyle kompliziert. Drei Schneetage waren geplant, einen konnte sie machen. «Aber sobald ich im Engadin war, wurde es von Tag zu Tag besser» Schritt für Schritt habe sie das Vertrauen ab da wieder aufbauen können, so Gremaud. «Es gelang mir, mich auf das zu fokussieren, was in meiner Macht stand. Ohne mein gutes Umfeld und die richtige Expertise wäre dieser Erfolg nicht möglich gewesen.»
Der überlegene Erfolg unter diesen erschwerten Umständen untermauert Gremauds aussergewöhnliche Qualitäten. In der kompletten Szene der Freeskierinnen gibt es nur eine, die Gremaud mit ihrem Trick-Repertoire das Wasser reichen kann: die in den USA aufgewachsene und lebende Chinesin Eileen Gu, die an den letzten Olympischen Spielen Gold in der Halfpipe und im Big Air geholt hatte und sich im Slopestyle mit Silber hinter Gremaud begnügen musste. Mit Blick auf die Olympischen Spiele 2026 bahnt sich ein spannendes Duell an. Beide sind dabei, ihr Level bis zum nächsten grossen Fixpunkt noch einmal anzuheben.
«Wieder ein 4. Platz» für Ragettli
Gremauds Triumph an der Heim-WM ist der gute Ausgang, der Andri Ragettli vor seinem Heimpublikum verwehrt blieb. Wie an den Olympischen Spielen 2022 und zuletzt vermehrt im Weltcup musste der Bündner mit dem ersten Platz neben dem Siegertreppchen vorliebnehmen. «Wieder ein 4. Platz, das vierte Mal in dieser Saison. Das regt auf und stört…», ärgerte sich Ragettli.
Dabei hatte er an seiner Leistung eigentlich nichts auszusetzen. Mit einem starken ersten Lauf hatte er sich als Qualifikationssieger an die Spitze geschoben. Dort blieb er, bis drei der letzten vier Konkurrenten ihn noch um den verdienten Lohn brachten.
Ragettli ärgerte sich natürlich. Doch der Schmerz war weniger gross, als vor drei Jahren an den Winterspielen in China. Weltmeister ist er seit 2021 schon, eine Olympiamedaille fehlt in seinem üppigen Trophäenschrank noch. 2026 in Norditalien soll die Lücke im dritten Anlauf geschlossen werden, das ist das ganz grosse Ziel.