Urlaubsziel Ukraine: Kriegstouristen auf den Spuren der Zerstörung
Sogenannte Kriegstouristen reisen in die Ukraine, um die Zerstörungen des russischen Angriffskriegs mit eigenen Augen zu sehen. Touren in Kriegsgebiete wie Irpin oder Charkiw, die teils als „Schwarzer Tourismus“ bezeichnet werden, werfen ethische Fragen auf.
«Ein bisschen Angst habe ich schon», sagt Alberto Blasco Ventas angesichts der russischen Raketen, die fast täglich Kiew angreifen. «Ich bin zum ersten Mal in einem Kriegsgebiet.» Dabei hat der 23-jährige Spanier eine anstrengende Reise auf sich genommen, um den Krieg hautnah zu erleben. Und Blasco Ventas ist bei weitem nicht der einzige Kriegstourist in der Ukraine – immer mehr Ausländer wollen die Zerstörung mit eigenen Augen sehen.
Der Spanier blickt auf die kaputte Brücke von Irpin, einer Vorstadt von Kiew. Die Ukrainer hatten die Brücke zu Beginn des Krieges 2022 gesprengt, um den Vormarsch der russischen Truppen auf die Hauptstadt zu stoppen. Heute ist Irpin eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten für Kriegstouristen.
«Schwarzer Tourismus» nennt sich diese Nische der Reisebranche, etwa ein Dutzend ukrainische Unternehmen bietet Touren wie jene nach Irpin an. Blasco Ventas hat bei War Tours gebucht. Die Agentur hat eigenen Angaben zufolge in diesem Jahr etwa 30 Kunden begleitet, hauptsächlich aus Europa und den USA.
Teile der Gewinne gehen an die Armee
Die Touren konzentrieren sich meist auf Kiew und seine Vororte, in denen die russischen Soldaten mutmasslich Massaker an Zivilisten verübten, und kosten zwischen 150 Euro und 250 Euro.
Ein Teil der Gewinne gehe an die Armee, sagt der Mitbegründer des Unternehmens, Dmytro Nykyforow. Bei den Touren gehe es jedoch «nicht um Geld, sondern um die Erinnerung an den Krieg». Die Besuche hätten vor allem einen pädagogischen Wert, versichert auch Switosar Moiseiw, Manager des Tourismusunternehmens Capital Tours Kiew. «Sie sind wie ein Impfstoff, um zu verhindern, dass so etwas jemals wieder passiert.»
Blasco Ventas filmt jeden Schritt seiner Reise. Die Videos veröffentlicht er in seinem Youtube-Kanal, dem 115’000 Menschen folgen. Auch andere ungewöhnliche Urlaubsziele hat der Software-Ingenieur dort dokumentiert – die «schrecklichste psychiatrische Klinik» in den USA und die «gefährlichste Grenze» der Welt zwischen China, Russland und Nordkorea.
Seine Familie hatte Bedenken, dass der Sohn nun auch noch in die Ukraine reist. Blasco Ventas stieg dennoch ins Flugzeug nach Moldau. Weiter ging es mit dem Zug in 18 Stunden nach Kiew. Die Hauptstadt ist zwar immer wieder unter Beschuss, doch die Front ist mehrere hundert Kilometer entfernt.
Für tausende Euro bis fast ins Kampfgebiet
Manche Reiseagenturen bringen ihre Kunden für tausende Euro auch fast bis ins Kampfgebiet. Nick Tan aus den USA wagte die Reise: Im Juli flog er nach Charkiw. Die zweitgrösste Stadt der Ukraine liegt 20 Kilometer von der Front entfernt und wird ständig bombardiert.
«Ich wollte es einfach sehen, weil ich denke, dass unser Leben im Westen zu bequem und einfach ist», sagt der 34-Jährige, der für ein New Yorker Technologieunternehmen arbeitet. Eigentlich wollte er noch näher an die Gefechtslinie, doch das liess sein Reiseführer nicht zu.
Tan sucht den Nervenkitzel. Früher fand er ihn beim Fallschirmspringen, Boxen und auf Raves. «Aus Flugzeugen zu springen, die ganze Nacht zu feiern und Leuten ins Gesicht zu schlagen, das ist nichts mehr für mich. Was ist also das Nächstbeste? In ein Kriegsgebiet zu gehen», sagt er.
Auf Menschen im zerstörten Irpin, die immer noch in ständiger Gefahr leben, wirkt diese Einstellung befremdlich. «Eine Schahed-Drohne ist kürzlich 300 Meter von meinem Haus entfernt abgestürzt. Ich hätte nicht das Bedürfnis, so etwas zu erleben», sagt der 52-jährige Ruslan Sawtschuk. «Aber wenn die Menschen das wollen, ist es ihr Recht.»
Ethische Fragen um den Kriegstourismus
Die meisten Einwohner seien mit dem schwarzen Tourismus einverstanden, sagt Mychailyna Skoryk-Schkariwska, Gemeinderätin in Irpin. Aber es gebe auch Vorwürfe. «’Warum kommt ihr hierher? Warum wollt ihr unsere Trauer sehen?’», fragten manche Leute die Touristen. Auch Mariana Oleskiw, Leiterin der Nationalen Agentur für Tourismusentwicklung, sieht die ethischen Fragen des Kriegstourismus. Deshalb bereitet die Agentur spezielle Schulungen für Reiseführer vor.
Schon vor dem Krieg waren jedes Jahr Zehntausende Katastrophentouristen in die Ukraine gereist, um Tschernobyl zu besuchen, wo sich 1986 der schlimmste Atomunfall der Welt ereignet hatte. Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 ist der Tourismus in der Ukraine weitgehend zusammengebrochen. Jetzt kommen aus dem Ausland hauptsächlich Geschäftsreisende.
Doch die ukrainische Tourismusbranche bereitet sich schon auf die Zeit nach dem Krieg vor, zum Beispiel mit Verträgen mit den Reiseportalen Airbnb und TripAdvisor. Oleskiw ist zuversichtlich: «Der Krieg hat die Aufmerksamkeit auf die Ukraine gelenkt, jetzt kennt zumindest jeder unser Land.»