«Wir können mit viel Positivität in die Zukunft schauen»
Kerstin Kündig führt das Nationalteam an der Heim-EM in Basel als Kapitänin an. Sie ist stolz auf die Entwicklung im Schweizer Frauen-Handball.
Ende 2022 gehörte Kerstin Kündig, worüber sie sehr erstaunt war, an den Sports Awards zu den sechs Nominierten in der Kategorie «MVP des Jahres» und belegte hinter Roman Josi und Granit Xhaka den 3. Platz. Sie liess unter anderen Lia Wälti, die Kapitänin im Fussball-Nationalteam der Frauen hinter sich. Diese Anerkennung symbolisiert den Aufstieg des Frauen-Handballs in der Schweiz.
«Es ist schön zu sehen, dass sich die Investitionen in den Frauen-Handball gelohnt haben», sagt die nach einer Knieoperation im September rechtzeitig für die Heim-EM fit gewordene Kündig im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. «Wenn man sieht, was für Talente heranwachsen, kann man stolz sein.» Zu den Investitionen gehörte die Lancierung der Akademie im Kompetenzzentrum OYM in Cham. Diese richtet sich an Spielerinnen im Alter zwischen 14 und 20 Jahren, die sich neben der Ausbildung optimal im Handball weiterentwickeln wollen.
Unberechenbare Kroatinnen
Die Perspektiven sind in der Tat vielversprechend. Im Juli gewannen die Schweizerinnen bei den U16 European Open, der inoffiziellen EM in dieser Alterskategorie, den Titel. Elf der 18 Spielerinnen im EM-Kader sind 21 Jahre und jünger. Lagen Grossanlässe für die Schweizerinnen lange Zeit ausser Reichweite, schafften sie vor zwei Jahren, begünstigt durch den Ausschluss Russlands, zum ersten Mal den Sprung an eine EM-Endrunde. Nun soll zuhause in Basel mit dem Erreichen der Hauptrunde, für die sich die ersten zwei in jeder der sechs Gruppen qualifizieren, der nächste Schritt folgen.
Läuft alles normal, wird das dritte Vorrundenspiel am kommenden Dienstag gegen Kroatien über ein Weiterkommen entscheiden, denn am Freitag gegen die Färöer sind die Schweizerinnen favorisiert und am Sonntag gegen den Olympia-Dritten Dänemark wären Punkte eine Sensation. Wie sieht Kündig die Ausgangslage gegen die Kroatinnen? «Das ist ein schwierig einzuschätzendes Team. Mal sind sie ein Jahr lang sehr gut, dann ein Jahr gar nichts. Wenn man ihre Kaderliste anschaut, dann haben sie sehr viele Spielerinnen, die in der Champions League auflaufen, und die im gleichen Team tätig sind. Das ist eine gefährliche Kombination. Ich bin gespannt auf ihre ersten Spiele.»
Dass die Schweiz ein sehr junges und dementsprechend unerfahrenes Team stellt, darin sieht Kündig auch positive Aspekte. «Das kann durchaus auch als Chance gesehen werden. Eine junge Spielerin kann sehr oft fast nur gewinnen. Mit bereits 17, 18, 19 Jahren ein solches Karriere-Highlight erleben zu dürfen, das ist gigantisch. Sie können frei aufspielen und jede positive Aktion umso mehr feiern.»
Ausland als logischer Schritt
Kündig ist mit 31 Jahren die zweitälteste im Team. Seit 2020 spielt sie im Ausland, seit dem vergangenen Jahr wieder beim Bundesligisten Thüringer SC, für den sie schon von 2020 bis 2022 tätig gewesen ist. Dazwischen erfüllte sie sich kurz den Traum, einmal für den dänischen Topklub Viborg aufzulaufen. Weil der Verein jedoch finanzielle Probleme publik machte, nahm sie Mitte Dezember 2022 das Angebot von Bietigheim an – mit der deutschen Equipe gewann sie den Meistertitel und den nationalen Cup.
Dass sie ins Ausland ging, war für Kündig ein logischer Schritt, allerdings wollte sie zuerst das Masterstudium in der Medizintechnik an der ETH Zürich beenden. Nun studiert sie an der Fernuni Schweiz Wirtschaft. «Ich war mir gewohnt, mein Gehirn neben dem Handball noch zu brauchen. Im Profialltag merkte ich, dass ich anfing, mich etwas zu langweilen. Ich konnte zwischen den Trainings vom Handball nicht loslassen. Ich bin besser, wenn meine Gedanken ab und zu woanders sind. Und einen wirtschaftlichen Hintergrund zu haben, ist später für die Berufswelt sicher nicht verkehrt», erzählt Kündig.
Kann bei den Frauen in Ländern wie Deutschland oder Dänemark, in denen der Handball einen grossen Stellenwert geniesst, gut davon gelebt werden? «Es kommt sehr auf den Klub an. Ich würde sagen, dass man bei den besten drei, vier Vereinen in den jeweiligen Ligen sehr gut davon leben und etwas zur Seite legen kann», so Kündig. Sie glaubt, dass das Wissen, das Hobby zum Beruf machen zu können, noch mehr Schweizer Spielerinnen dazu bringt, diesen Weg zu gehen – aktuell spielt immerhin schon die Hälfte des EM-Teams im Ausland. «Wir können mit viel Positivität in die Zukunft schauen», blickt Kündig voraus.