«E.1027» über weibliche Meisterschaft und männliche Eitelkeit
Die Dokufiktion «E.1027 – Eileen Gray and the House by the Sea» würdigt das Werk von Eileen Gray. Die Irin war eine avantgardistische Design-Ikone und Architektin, die in den 1920er-Jahren ein Haus an der Côte d’Azur gebaut hat.
Ist es Architekturgeschichte? Ein Krimi? Die Geschichte einer Arbeitsbeziehung? Ein feministisches Manifest? Der Film «E.1027 – Eileen Gray and the House by the Sea» von Beatrice Minger und Co-Regisseur Christoph Schaub ist alles in einem. Und darüber hinaus eine Liebeserklärung an die grosse Designerin und Architektin des frühen 20. Jahrhunderts, Eileen Gray (1878-1976).
Die Irin, gespielt von Natalie Radmall-Quirke, lebt im Paris der 1920er-Jahre in einem «Fiebertraum». Sie arbeitet als Möbeldesignerin, als sie den rumänischen Architekten und Journalisten Jean Badovici kennen lernt. Er ist anders als andere Männer, die sich laut Gray «immer messen wollen. Oder heiraten».
Die beiden planen und bauen ein Haus an der Côte d’Azur, an einer Stelle, die «völlig unzugänglich» ist. Die Designerin liebt die Abgeschiedenheit in Roquebrune am Cap Martin. «In diesem Haus fand ich etwas, von dem ich nicht wusste, dass es mir fehlte.» Gray hatte zuvor Tischchen, vor allem Sessel und Teppiche gestaltet. Gegenstände und Objekte, sagt sie im Film auch, würden zu ihr sprechen.
Zweisamkeit von kurzer Dauer
Die Designerin und der Journalist nennen ihr Anwesen das «Maison en Bord de Mer». Die Zeit überdauern wird auch die etwas etwas kryptische Bezeichnung «E.1027». E steht für Eileen, 10 für den Buchstaben J (wie Jean), 2 für Badovici und 7 für Gray.
Das Glück der einsamen Zweisamkeit dauert nicht lange. Greys Partner Bado will das Haus an diesem perfekten Ort der Welt zeigen. Gäste finden sich ein, Drinks bleiben auf den heute ikonischen Tischchen stehen, fremde Badeanzüge hängen über Grays Sesseln. Sie zieht sich in die Berge zurück, nur wenige Kilometer entfernt von ihrem geliebten E.1027. Sie wird nie zu ihrem Haus zurückkehren. «Ich liebe es, Dinge zu kreieren. Aber ich hasse es, sie zu besitzen», sagt sie.
An dieser Stelle geht der Film in einen zweiten Teil über: Le Corbusier wird durch seinen Freund Jean Badovici auf Grays Haus aufmerksam. Der Architekt ist fasziniert, ja geradezu besessen vom Bau. Und so nimmt das Unglück seinen Lauf. «Ich habe grosse Lust, die Wände zu beschmutzen», sagt er und macht sich an der französischen Riviera an die Arbeit. In Eileen Greys Traumhaus, ohne dass sie davon weiss.
Vergewaltigung in übertragenem Sinn
Le Corbusier bemalt die Wände nackt. So kommen seine Taten einer sinnbildlichen Vergewaltigung gleich. Dazu passt das martialische Gerede zwischen «Corbu» und «Bado». Die beiden Männer sprechen über Architektur und sagen Bombe. Oder sie reden davon, dass die Malerei die Architektur zerstöre. Sie werfen mit kriegerischem Vokabular nur so um sich. Der Film unterstreicht das mit Bildern vom schwelenden Unglück der Zeitläufte.
Der Krieg allerdings kann E.1027 nicht viel anhaben, trotz Besetzung durch die Nazis, die Löcher in Wände schiessen. Im Film ist der Zweite Weltkrieg nur ein kleines Intermezzo. Doch die Stimmung im Film ist plötzlich eine ganz andere. Bei Zuschauerinnen und Zuschauner entsteht Beklemmung. Nach dem Krieg kommt Le Corbusier zurück und malt weiter.
Eileen Gray erfährt erst nach dem Krieg von den Wandbildern. Sie bezeichnet die Malereien als Vandalismus und verlangt, dass er die Wände in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt. Er ignoriert sie und baut stattdessen direkt hinter E.1027 eine Art Holzschuppen, seinen berühmten Cabanon.
Film wie Haus: ein Meisterwerk
Unwillkürlich drängt sich ein Vergleich auf: Das Regie-Duo Beatrice Minger und Christoph Schaub hat mit diesem Film ein Meisterwerk gedreht – fast gebaut. Die Geschichte über die Kraft des weiblichen Ausdrucks und die Reaktion eines gekränkten Mannes ist eindrücklich. sie geht unter die Haut. Le Corbusier soll nicht ausgehalten haben, dass Gray ein solches Meisterwerk zustande gebracht hat.
Eindrücklich ist der Film nur schon wegen des Genres, für das sich das Regie-Duo entschieden hat: die Dokufiktion. Dieses Genre bedient sich sowohl fiktiver als auch dokumentarischen Mittel. Schauspielerinnen und Schauspieler schlüpfen in die Rollen von Eileen Gray, deren Haushälterin, ihrem Partner Jean Badovici und dem Architekten Le Corbusier. Der Handlungsstrang basiert auf Fotos, Filmen und Artikeln aus Zeitschriften jener Zeit. Das Mischgenre ermöglicht den Zuschauerinnen und Zuschauern einerseits eine Reise in die Gedankenwelt der Designerin und zeigt andererseits ein Stück Architekturgeschichte.
Darüber hinaus besticht der Film durch eine ästhetisch hochstehende Kameraführung: «E.1027» ist zauberhaft, ein Traum in Tiefblau, Orange und Sepiatönen. Er startet nun in den Deutschschweizer Kinos.*
*Dieser Text von Nina Kobelt, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.