Ein Glarner wählt fast 500 Mal grundlos die Polizei-Notrufnummer
An einem Dienstag kurz nach 10 Uhr klingelt es an der Haustüre eines Pensionierten in Glarus. Er öffnet die Türe und sieht einen hageren Mann vor sich. Er habe sich aus seiner Wohnung ausgesperrt und müsse zur Arbeit nach Zürich, erklärt dieser und bit-tet um 50Franken für das Zugbillett. Der hagere Mann bietet ihm seine Identitätskarte als Pfand an. Gemeinsam gehen die beiden Männer zum Bancomaten, wo der Pensionierte 100 Franken abhebt. Das Pfand lehnt er aber ab und der hagere Mann versichert ihm, dass das Geld noch am gleichen oder spätestens am nächsten Tag in seinem Briefkasten sein werde. Doch der Briefkasten des Pensionierten bleibt leer, auch am nächsten, am übernächsten und am dritten Tag.
Leicht gebeugt sitzt der hagere Mann Monate später als Beschuldigter vor dem Kantonsgericht Glarus. Sportlich gekleidet in Jeans und Turnschuhen, aber mit gepflegtem Erscheinungsbild. Er sieht älter aus, als er ist. Der geringfügige Betrug ist nicht seine einzige Straftat. Hinzu kommen ein weiterer geringfügiger Betrug, das mehrfache Entwenden eines Fahrzeuges (einmal ein Mountainbike und einmal ein Mofa), das mehrfache Fahren ohne Berechtigung und der mehrfache Missbrauch des Notrufs. Insgesamt 494 Mal rief er grundlos die Notrufnummer 117 an. Nach dem ersten oder zweiten Klingeln legte er jeweils wieder auf. Einmal waren es 141 Anrufe innerhalb von zwei Tagen.
Im Gerichtssaal erklärt der Beschuldigte, dass er momentan in einer Klinik stationär behandelt werde. Ansonsten wohne er bei seiner Mutter, da er arbeitslos sei. Bevor der Gerichtspräsident eine nächste Frage stellen kann, unterbricht der Beschuldigte den ritualisierten Ablauf mit den Worten: «Ich bekenne mich schuldig.» Der Gerichtspräsident schmunzelt leicht, fährt dann aber mit der nächsten Frage fort, als wäre nichts gewesen. Seit 20 Jahren kämpfe er mit einer Kokainsucht, erklärt der Beschuldigte. Durch den Konsum habe er Psychosen und Angstzustände entwickelt. Auch in der Zeit, als er die Straftaten beging, habe er immer wieder Psychosen gehabt. Den Notruf habe er gewählt, weil er alleine zu Hause immer wieder in Angstzustände geraten sei.
Es stellt sich heraus, dass der Beschuldigte zunächst angegeben hatte, die Anrufe seien auf einen technischen Defekt seines Mobiltelefons zurückzuführen. «Das war eine Ausrede. Ich ha-be mich für meine psychischen Probleme geschämt», klärt der Beschuldigte auf.
Pensionierter zieht seine Strafanzeige zurück
20 Tage Freiheitsstrafe werden von der Staatsanwaltschaft Glarus im Strafbefehl gefordert. Zusammen mit einer bedingten einmonatigen Freiheitsstrafe aus dem Jahr 2021 ergibt sich eine Gesamtfreiheitsstrafe von 50Tagen. Zusätzlich soll er dem Pensionierten die 100 Franken zurückgeben und eine Busse von 2450 Franken bezahlen.
Die Staatsanwaltschaft ist im Gerichtssaal nicht anwesend. Als Privatkläger darf sich der Pensionierte äussern. Er fragt, ob er seine Strafanzeige auch jetzt noch zurückziehen könne. «Ich will dem Beschuldigten, der vor neuen Lebensumständen steht, nicht im Weg stehen.» Es sei ihm nie ums Geld gegangen. Der Beschuldigte versuchte mehrmals, die 100 Franken zurückzuzahlen. Der Pensionierte lehnte aber immer wieder ab. «Er sollte merken, dass man so etwas nicht macht», sagt er. Nun scheint er fest da-ran zu glauben, dass der Beschuldigte sein Leben in den Griff bekommen wird. Der Beschuldigte bedankte sich dafür mehrmals beim Pensionierten.
Was diese neuen Lebensumstände sind, erklärt die Verteidigung. Der Beschuldigte arbeite im Entzug hart an sich. Er wolle sich eine neue Arbeitsstelle suchen, um finanziell unabhängig von seiner Mutter zu sein. Zudem sei die Freundin des Beschuldigten schwanger. Der Gerichtspräsident erklärte, dass sich die zurückgezogene Strafanzeige zwar nur minimal, aber positiv auf das Strafmass auswirken werde.
Ein Kokainsüchtiger aus dem Glarnerland ruft 494 Mal bei der Notrufnummer an und knöpft einem Rentner 100 Franken ab. Vor Gericht nimmt die Geschichte zum Betrug eine rührende Wende.