Ukraine sieht Kursk als Faustpfand für Friedensverhandlungen
Die Ukraine sieht ihre Eroberungen im russischen Gebiet Kursk nur als eine Art Faustpfand für Friedensverhandlungen. Im Gegensatz zu Russland wolle sich die Ukraine nicht fremdes Gebiet aneignen, sagte der Sprecher des ukrainischen Aussenministeriums, Heorhij Tychyj, in Kiew. «Die Ukraine ist nicht daran interessiert, Territorium in der Region Kursk zu erobern. Wir wollen das Leben unserer Menschen schützen.»
Ähnlich wie Präsident Wolodymyr Selenskyj am Montagabend begründete Tychyj die mittlerweile acht Tagen dauernde Operation damit, dass sie russische Angriffe auf das ukrainische Nachbargebiet Sumy unterbinden solle. Ausserdem solle die russische Logistik gestört werden, um zu verhindern, dass Moskau zusätzliche Truppen in das ostukrainische Kampfgebiet Donezk verlegt.
«Je eher sich Russland bereiterklärt, einen gerechten Frieden wiederherzustellen, (…) desto eher werden die Angriffe der ukrainischen Verteidigungskräfte auf das Gebiet Russlands aufhören», sagte Tychyj ukrainischen Medien zufolge. Die ukrainische Armee sei eine zivilisierte Streitkraft und halte sich an die Regeln der Kriegsführung und an das internationale humanitäre Recht. «Ziele der ukrainischen Streitkräfte sind die Soldaten.»
Die ukrainische Armee greift seit dem 6. August in der russischen Region Kursk an und hat dort nach örtlichen Behördenangaben 28 Ortschaften eingenommen. Das ukrainische Projekt DeepState sieht dagegen bisher etwa 44 Ortschaften unter Kontrolle Kiews.
Ukraine operiert erstmals auf russischem Territorium
Nach fast zweieinhalb Jahren Abwehr gegen die russische Invasion hat die Ukraine mit dem Vordringen über die Grenze erstmals eine grossangelegte Bodenoperation auf dem Gebiet des Gegners unternommen. Die Offensive läuft seit dem vergangenen Dienstag, wobei die militärische Lage weiterhin unklar bleibt. Russische Militärbeobachter gehen davon aus, dass die russischen Streitkräfte sich nach der anfänglichen Überraschung besser organisieren und den Vormarsch der Ukrainer stoppen.
«Die Operation zur Vernichtung von Einheiten der ukrainischen Streitkräfte wird fortgesetzt», teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Es seien mehrere Versuche der Ukrainer abgewehrt worden, über weitere Grenzabschnitte nach Russland einzudringen. Nach Angaben des ukrainischen Oberbefehlshabers Olexander Syrskij hat die Ukraine die Kontrolle über etwa 1000 Quadratkilometer in Russland. Der russische Präsident Wladimir Putin befahl am Montag zum wiederholten Mal, die ukrainischen Kräfte aus dem Land zu vertreiben. Dabei lehnte er Verhandlungen mit der Ukraine ausdrücklich ab.
Evakuierungen im Gebiet Kursk gehen weiter
Aus den Landkreisen im Gebiet Kursk, die durch die Kämpfe betroffen sind, sind nach Behördenangaben etwa 120.000 Menschen geflohen oder in Sicherheit gebracht worden. Für einen weiteren Landkreis wurde die Evakuierung vorbereitet. «Bis zum heutigen Tag gab es in unserem Landkreis keine Evakuierung. Alle sind von sich aus weggefahren, niemand hat sie daran gehindert. Heute sammeln wir Daten darüber, wer noch evakuiert werden muss», schrieb der Verwaltungschef des Kreises Bolschesoldatski, Wladimir Sajzew, auf Telegram. Anders als die bisher evakuierten Landkreise der Region Kursk liegt dieser Kreis nicht in unmittelbarer Nähe der ukrainisch-russischen Grenze, sondern weiter landeinwärts.
In der Nacht wurde die ostukrainische Grossstadt Sumy nach Behördenangaben zum Ziel eines russischen Raketenangriffs. Es seien Objekte der Infrastruktur getroffen worden, teilte die Militärverwaltung des Gebietes Sumy mit. Angaben über mögliche Treffer auf militärische Ziele macht die ukrainische Seite prinzipiell nicht. Über Sumy werden die ukrainischen Truppen versorgt, die seit mehr als einer Woche in Russland operieren.
Russland will Flüchtlinge aus Kursk in die Ukraine bringen
Die Kursker Behörden wollen Flüchtlinge auch in ein von Russland besetztes Gebiet in der Ukraine bringen. Er habe mit dem Gouverneur der Region Saporischschja über diese Lösung gesprochen, teilte der amtierende Gouverneur von Kursk, Alexej Smirnow, auf Telegram mit. Sein Amtskollege Jewgeni Balizki habe vorgeschlagen, zur Unterbringung der Evakuierten die Sanatorien und Pensionen am Asowschen Meer zu nutzen. «In den kommenden Tagen werden wir erste Transporte zusammenstellen, um Menschen in die Notunterkünfte in der Region Saporischschja zu bringen.»
Russland hatte die zur Ukraine gehörende Region Saporischschja im Herbst 2022 annektiert und schon davor den Ukrainer Balizki als moskautreuen Statthalter eingesetzt. Moskau kontrolliert das Gebiet zwar nicht vollständig, hatte aber vor allem den Zugang zum Asowschen Meer besetzt, wo es bis heute auch Sanatorien gibt. Dort sollen nun die Flüchtlinge unterkommen.
Beide Seiten fangen gegnerische Drohnen ab
Nach Angaben der ukrainischen Luftwaffe setzte die russische Armee in der Nacht zwei ballistische Iskander-Raketen und 38 Kampfdrohnen gegen die Ukraine ein. 30 Drohnen seien abgefangen worden, hiess es. In weiten Teilen der Ukraine hatte nachts Luftalarm gegolten. Das russische Verteidigungsministerium teilte mit, es seien in der Nacht 14 ukrainische Drohnen abgefangen worden – die meisten von ihnen über dem Gebiet Kursk. Die Militärangaben sind meist nicht unabhängig überprüfbar.