Erste von vier Goldmedaillen liegt in trockenen Tüchern
Noah Lyles bliebt - mit etwas Glück - die Nummer 1 im Sprint. Der dreifache Weltmeister von Budapest strebt in Paris sogar das Quadruple an und hat die höchste der vier Hürden genommen.
Schliesslich hüpfte der Mann aus Florida doch noch auf der violetten Bahn wie wild auf und ab, brüllte seine Freude und Erleichterung heraus, riss er sich die Startnummer mit seinem Namen darauf von der Brust und hielt sie in alle Kameras.
Die Show des 27-Jährigen, die im Prinzip schon bei der Präsentation angefangen hatte, als Lyles wie von der Tarantel gestochen auf die Bahn stürmte («Ich wollte die 70’000 Fans abholen und so Energie tanken»), nahm erst nach und nach wieder Fahrt auf. Dazwischen war Warten angesagt: Die Organisatoren liessen die Sprinter für eine minutenlange Licht- und Musik-Show vor den Startblöcken stehen, nach dem Zieleinlauf nahm sich die Jury die nötige Zeit, um die fünf Tausendstel Unterschied auszumachen.
«Ich war darauf vorbereitet, dass Kishanes Name auftauchen würde», gestand Lyles. Kishane Thompson, vor etwas mehr als einem Jahr noch völlig unbekannt, fehlte aber bei seinem allerersten internationalen Wettkampf die nötige Lockerheit, um Lyles auch auf den letzten Metern in Schach zu halten. Der 23-jährige muskulöse Jamaikaner liess sich noch abfangen. Er hätte, im Gegensatz zu Lyles, wohl eine noch bessere Zeit als die 9,79 Sekunden in den Beinen gehabt.
«Dieses Jahr sind meine Gegner bereit», kommentierte Lyles das enge Rennen. «Aber auch ich habe viel für diesen Sieg gearbeitet. Ich bin jetzt Olympiasieger, ich bin nicht mehr nur Weltmeister, ich bin der schnellste Mensch der Welt.» Er sei stolz, dass er es gegen so schnelle Athleten geschafft habe, beim grössten Rennen der Welt, auf der grössten Bühne der Welt.
Lyles, eigentlich ein 200-m-Läufer, hatte in den letzten Jahren viel in den 100-m-Lauf investiert. Er trat sogar in der Halle über 60 m an, um auf den ersten Metern noch schneller zu werden. Mit Erfolg: Lyles lief im Stade de France eine persönliche Bestzeit.
Thompson akzeptierte, dass es nur einen Sieger geben kann: «Ich denke nicht, dass wir uns die Goldmedaille teilen sollten, dafür ist der Sport zu kompetitiv.» Er werde nach vorne schauen – und muss wohl Lyles zumindest in Paris noch weiter zum Sieg gratulieren.
Vier Goldmedaillen im Stade de France?
Der 27-jährige Lyles ist längst als eines der Gesichter der Leichtathletik etabliert, aber ihm fehlte noch die olympische Weihe, denn die Spiele 2021 in Tokio missrieten ihm gründlich. In einer Covid-Blase und einem hoffnungslos leeren Stadion, meilenweit entfernt von seinem Show-Talent, eingeholt von einer depressiven Episode, wie er sie seit seiner Kindheit kennt, konnte er nur die Bronzemedaille im 200-m-Lauf gewinnen, bei dem er jedoch als Favorit galt.
In Paris nun will er eine Herausforderung annehmen, der sich selbst Usain Bolt nie stellte: Über 100 m, 200 m, 4×100 m und 4×400 m, obwohl er kein Spezialist auf dieser Strecke ist, sollen Gold her.