«Ich schulde es mir, mit den höchstmöglichen Zielen anzutreten»
Der Hürdenläufer Jason Joseph ist in dieser Saison nicht wie gewünscht auf Touren gekommen. Das ändert jedoch nichts daran, dass er mit einer Olympia-Medaille liebäugelt.
Genau zur abgemachten Zeit ruft Jason Joseph an. Danach gefragt, ob Pünktlichkeit zu seinen Tugenden gehöre, antwortet der 25-jährige Basler im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA: «Ich würde die Frage sehr gerne mit Ja beantworten, aber leider gar nicht. Bei allem, was mit dem Sport zu tun hat, bin ich eher pünktlich, sonst ist die abgemachte Zeit mehr eine Richtlinie.»
Das Gespräch findet am Donnerstagmorgen unmittelbar vor Josephs Abreise nach Paris statt. Er mag es, erst kurz vor dem Wettkampf anzureisen – die Vorläufe über 110 m Hürden beginnen am Sonntag um 11.50 Uhr. «Vor allem konnte ich so zu Hause trainieren», sagt Joseph. Als er 2021 und 2022 unter dem Startrainer Rana Reider in Florida arbeitete, «merkte ich, dass ich Claudine brauche». Claudine Müller war zuvor schon seine Haupttrainerin.
Grösse Fluch und Segen zugleich
«Dennoch war die Zeit in den USA wichtig», betont Joseph. «Ich wurde dort schneller und stärker, sah, wie Topathleten trainieren.» Zu diesen haben er damals noch nicht gehört. Weil in Florida jedoch wenig Techniktraining gemacht wurde, gelang es ihm nicht, die höhere Geschwindigkeit optimal in den Rennen über 110 m Hürden umzusetzen. Deshalb kehrte er in die Schweiz zu Claudine Müller zurück. «Für mich gibt es keine bessere Trainerin.»
Denn Josephs Körpergrösse von 1,92 m ist Fluch und Segen zugleich. «Zwar ist die Hürdenhöhe (106,7 cm) für mich überhaupt kein Problem, dafür ist der Abstand zwischen den Hürden eher kurz für meine Beine. Darum arbeiten wir so viel an der Frequenz und am Rhythmus», erklärt er. Apropos Training. Früher war der Hürdenlauf überhaupt nicht sein Ding. «Als ich mit 13 oder 14 Jahren anfing, war ich nicht wirklich beweglich, hatte ich nicht wirklich Power, und koordinativ war es auch schwierig», blickt Joseph zurück. «Hürdenlauf ist so mühsam, wenn man ihn nicht beherrscht.» Da er dennoch «ganz okay» war, machte er weiter. Das hat sich definitiv ausbezahlt.
An Nuancen gearbeitet
Im Hinblick auf seine zweiten Olympischen Spiele nach Tokio 2021 arbeitete er zuletzt an Nuancen, beispielsweise am Winkel der Arme, um kompakter zu sein. Denn genau solche Details entscheiden, ob er richtig schnell ist oder nicht. Das «Millimeter-Arbeiten», wie es Joseph nannte, war umso wichtiger, als die Saison bisher trotz EM-Bronze im Juni in Rom nicht nach seinem Gusto verlaufen ist. Die Bestzeit in diesem Jahr beträgt 13,25 Sekunden, eine Marke, die 18 Hundertstel über dem eigenen Schweizer Rekord liegt. Die Olympia-Hauptprobe am 12. Juli am Meeting der Diamond League in Monaco missglückte Joseph mit 13,54 Sekunden komplett.
Wie ist er damit umgegangen, dass er bisher nicht wie gewünscht auf Touren gekommen ist? «Bis letzte Woche war es schwierig. Ich hatte viele Fragen, warum ich die Trainingsleistungen nicht auf die Bahn bringen konnte. Denn das widerspricht meiner Natur, da ich eigentlich ein Wettkampftyp bin. Nun beginnt die Rechnung aber wieder bei null. Ich fühle mich echt gut, besser als in den letzten Wettkämpfen.» Er habe Paris seit der Enttäuschung von Tokio im Kopf.
Trotz den mässigen Resultaten hat sich an Josephs Zielen nichts geändert, er liebäugelt mit einer Medaille. «Klar sind meine Leistungen im Moment weit weg von einer solchen, muss viel zusammenpassen, um überhaupt in den Final zu kommen. Trotzdem schulde ich es mir, dass ich mit den höchstmöglichen Zielen anzutreten. Ich darf die Hoffnung nicht verlieren, kann alles riskieren.»