Der Traum vom erneuten Olympia-Gold lebt stärker denn je
Steve Guerdat reist an seine sechsten Olympischen Spiele. Die Aufregung vor Paris ist dieselbe wie bei der Premiere, das Team um ihn herum so stark wie noch nie. Der Traum vom erneuten Gold lebt.
Der 42-Jährige, eigentlich kein Mann der grossen Töne, macht im Vorfeld der Spiele keinen Hehl aus seinen Erwartungen. «Ich bin noch nie mit so einem starken Team an die Olympischen Spiele gereist wie jetzt nach Paris. Mit Abstand! Alles andere als eine Medaille wäre eine Enttäuschung», betont er. Während Martin Fuchs anlässlich des Abgabe-Tages der Olympia-Tenüs in Dietikon mit «Das grosse Ziel ist eine Medaille» beginnt und Pius Schwizer mit «Wir hoffen auf eine Medaille» nachlegt, spricht Guerdat vom «Gold mit dem Team» – und schiebt später auch «Gold im Einzel» nach.
Die Voten sind nicht aus der Luft gegriffen: Alle drei Schweizer grüssten in ihrer Karriere schon von der Spitze der Weltrangliste, alle drei haben ein Palmarès, von dem viele Kollegen nur träumen können, und alle drei sitzen mit Dynamix (Guerdat), Leone Jei (Fuchs) und Vancouver (Schwizer) derzeit auf Weltklasse-Pferden.
«Ich bin gleich ambitioniert und aufgeregt wie vor meinen ersten Spielen. Routine wäre nicht förderlich», sagt Guerdat. Als sich seine Frau kürzlich beim Selektionsentscheid nach der Anzahl an Olympiateilnahmen erkundigte, habe er selber nachzählen müssen, erzählt der gebürtige Jurassier, der nach dem Kauf der Reitanlage in Elgg im Kanton Zürich sesshaft geworden ist . «Ich bin einer, der nach vorne schaut.»
Ein paar PS mehr
Nach vorne auf Paris schaut der Olympiasieger von London 2012 schon seit zwei Jahren. Zu diesem Zeitpunkt begann er zu realisieren, dass er mit der nun elfjährigen Stute Dynamix de Belheme über ein Ausnahmepferd verfügt, eines, «das ein paar PS mehr hat», wie Guerdat sagt. «Dynamix gehört zu den Besten. Sie hat natürliche Möglichkeiten, die andere Pferde nicht haben.»
Dies beweisen auch die Resultate: Vergangenen September liess sich Guerdat in Mailand im Sattel von Dynamix als Europameister feiern. Vor diesem Hintergrund nähme es Guerdat auch keiner ab, wenn er seine Gold-Ambitionen verbergen würde. Guerdat und Dynamix bilden zusammen mit Fuchs und Leone Jei sowie mit dem Schweden Henrik von Eckermann auf King Edward auf dem Papier die Top 3.
Ein Format mit Tücken
«Ich habe in Paris eine grosse Chance. Aber der Sport hat immer auch eine unbekannte Seite», skizziert Guerdat die Ausgangslage. Das seit Tokio neue Olympia-Format, bei dem an jedem Tag bei null begonnen wird und die Resultate des Vortages nicht mehr zählen, öffnet das Feld. Zudem gibt es in der Team-Wertung kein Streichresultat. Eine Verweigerung eines Pferdes, und alles ist dahin. Zur Erinnerung: In Tokio 2021 beendeten Grossbritannien, Deutschland und Frankreich den Wettkampf nicht. Besonders bitter erwischte es Frankreich, das auf Goldkurs lag, ehe Schlussreiterin Pénélope Leprévost nach der zweiten Verweigerung eliminiert wurde.
«Keine Medaille, das wäre eine grosse Enttäuschung. Aber so kann der Sport auch sein», mahnt Guerdat. In Rio 2016 sei er ein noch besserer Reiter gewesen als 2012, Nino sei ebenso gut in Form gewesen, sie hätten wieder das Stechen erreicht, «und doch gab es am Schluss keine Medaille». Jetzt sei er noch einmal ein besserer Reiter als in Rio, das Pferd absolut top, aber dies gebe keine Garantie. «Am Schluss zählt, dass man nichts bereuen muss, man nicht etwas unterlassen hat, das in der eigenen Macht gestanden hätte.»
Guerdat gilt als Perfektionist. Er akzeptiert diese Einschätzung, umschreibt sein Wesen aber anders: «Die Pferde holen dich morgens nicht aus dem Bett und sagen: ‘Spring mit mir’. Wir aber erwarten von ihnen stets 100 Prozent. Und wenn ich vom Pferd 100 Prozent erwarte, dann darf das Ross von mir 100 oder gar 105 Prozent erwarten. Das hat nicht nur mit Perfektionismus, sondern auch mit Respekt zu tun.»