Englands unerwarteter Held im EM-Halbfinal
Ollie Watkins schiesst England in den ersten Final ausserhalb des Vereinigten Königreichs. Der 28-Jährige ist der unerwartete Held, der nie gedacht hätte, im Nationalteam im Rampenlicht zu stehen.
In den verwinkelten Gängen des Dortmunder Stadions, das an dieser Europameisterschaft sponsorenbefreit «BVB Stadion» heisst, gibt es keine hermetisch abgeriegelte Interviewzone. Ein simples Gitter mit einem blauen Banner trennt die gemeinen Fans von den Fussballern, wenn sich diese vor den Pulk an Medienschaffenden stellen.
Wenn also an diesem Mittwochabend, der die englische Nationalmannschaft dank eines 2:1-Sieges im Halbfinal gegen die Niederlande in den ersten Final ausserhalb des Vereinigten Königreichs einziehen sah, Marc Guéhi, Harry Kane, Phil Foden und Declan Rice durch die Medienzone schlendern, sehen sie zwar eine Vielzahl an Mikrofonen und Kameras, die sich ihnen entgegenstrecken, aber sie hören auch «Don’t take me home» und «It’s coming home», welche die englischen Fans auch knapp zwei Stunden nach Abpfiff noch mit Inbrunst intonieren.
Dritte Verlängerung abgewendet
Die beiden Fanlieder, die zwei urenglische Sehnsüchte bedienen – nämlich diejenige, dass ein schöner Moment für immer anhalten soll, und die, das England endlich wieder bei einem grossen Turnier reüssiert und der Fussball «nach Hause» kommt – sie bilden den Klangteppich eines Abends, an dem die Three Lions wieder einen Schritt nähergekommen sind, diese Sehnsüchte zu stillen.
Und zwar auch dank eines Spielers, den wohl niemand als den Helden dieser Partie auserkoren hätte. Aber mit seinem Treffer in der 91. Minute wurde Ollie Watkins genau zu dem – dem bejubelten Siegtorschützen, der seinem Team nicht nur den Weg in den Final ebnete, sondern ihm auch eine dritte kräfteraubende Verlängerung an dieser EM ersparte.
Starke Saison für Aston Villa
Gerade einmal 20 Minuten hatte der Stürmer von Aston Villa in Deutschland bis dahin gespielt. Im zweiten Gruppenspiel gegen Dänemark (1:1) kam der 28-Jährige in der Schlussphase aufs Feld. Sowohl gegen Slowenien, als auch gegen die Slowakei und die Schweiz waren seine Dienste jedoch nicht mehr gefragt. Etwas, das ihn schon frustriert habe, gibt Watkins zu. Neben ihm steht da die Trophäe als bester Spieler dieses EM-Halbfinals.
Es ist ein weiterer Beleg dafür, wie nahe Frust und Freude im emotionsgeladenen Fussballgeschäft zusammen liegen können. Watkins blickt auf seine erfolgreichste Saison der Karriere zurück. Für Aston Villa gelangen ihm beeindruckende 27 Tore und 13 Vorlagen. Dennoch ist im Nationalteam in der Regel im System von Gareth Southgate nicht mehr Platz im Sturm als für Captain Harry Kane. «Ollie blieb bereit und trainierte jeden Tag sehr gut», sagt der Trainer. «Ich bin sehr glücklich für ihn, ist ihm dieses Tor gelungen.»
Die Nachrichten der Freunde
Der viel kritisierte Southgate kann sich nach dieser Partie loben, nicht nur den Siegtorschützen, sondern auch den Vorbereiter eingewechselt zu haben. Watkins kam in der 81. Minute zusammen mit Chelseas Cole Palmer aufs Feld. Er habe ihm in der Pause noch gesagt: «Wir kommen beide rein, und du bereitest mein Tor vor», erzählt Watkins. «Dass es dann so gekommen ist, ist unglaublich.»
Vor gut drei Jahren debütierte Watkins für die Nationalmannschaft. Er war aber keine Konstante im Ensemble von Southgate. In Dortmund stand er erst zum 14. Mal im englischen Dress auf dem Feld. Und erzielte gleich das wohl wichtigste Tor seiner Karriere. «Ich glaube, ich habe noch nie einen Ball so gut getroffen wie diesen», sagt Watkins über seinen präzisen Flachschuss in die entfernte Torecke und grinst.
Für ihn scheint es offensichtlich unwirklich, dass er an diesem Abend zur grossen Figur avanciert ist. «Ich hätte gar nie gedacht, dass ich überhaupt an einer EM für England spielen würde», sagt er und erzählt nach dem Gespräch mit Palmer von einer weiteren Episode einer wahr gewordenen Prophezeiung. Er habe nämlich vor dem Spiel sehr viele Nachrichten von Freunden erhalten, die ihm vorausgesagt hätten, dass er ein Tor erzielen würde.
«Vielleicht können sie für den Final dasselbe tun – und mir sagen, auf welche Lottozahlen ich setzen sollte.»