Die orange Welle schwappt nach links, rechts – und vorwärts
Die Niederlande steht überraschend erstmals seit 20 Jahren in einem EM-Halbfinal. Es ist ein Erfolg, der Trainer Ronald Koeman mit der Partie gegen England ein spezielles Duell beschert.
Wo die niederländischen Fans sind, gibt es an dieser Europameisterschaft nur zwei Richtungen: Nach links, und dann nach rechts. Die Supporter des Nationalteams bewegen sich in Deutschland im Takt eines Liedes, das zu ihrer Hymne geworden ist. Und die Strassen der Spielorte innert Sekunden in riesige Partymeilen verwandelt.
«Links rechts» heisst der Song der niederländischen Partyband Snollebollekes und hat textlich nicht viel mehr zu bieten als die Anweisung, dass sich alle mal nach links und dann nach rechts bewegen sollen. Zehntausende leisteten in den letzten Wochen Folge. Die orange Welle der Oranjes schwappte über Hamburg, Leipzig, Berlin und München – und wogte gemächlich von links nach rechts.
Als das Nationalteam am Samstag nach einem 2:1-Erfolg im Viertelfinal gegen die Türkei den Einzug in die Halbfinals perfekt gemacht hatte, hüpften die Fans auf der Tribüne des Berliner Olympiastadions hin und her, unten auf der blauen Tartanbahn versammelte sich die Mannschaft und hüpfte Arm in Arm – von links nach rechts.
Holprige Qualifikation
Die Geschlossenheit im Umfeld des «Koninklijke Nederlandse Voetbalbond» ist sinnbildlich für dieses Team, von dem eigentlich niemand erwartet hatte, dass es in dieser Phase des Turniers noch dabei sein würde. Denn ähnlich wie bei der Schweizer Nationalmannschaft verlief die Qualifikation nicht wirklich rund. Und begann denkbar schlecht: Vor dem ersten Spiel gegen Frankreich wurden mehrere Spieler krank, nachdem sie, wie sich später herausstellte, am Vorabend des Spiels im Hauptquartier ein schlechtes Pouletcurry gegessen hatten. Gegen ein geschwächtes Team setzte sich Frankreich, das an diesem Turnier bis in die Halbfinals kein Tor aus dem Spiel heraus erzielen konnte, problemlos 4:0 durch.
Es war eine Niederlage, der die Mannschaft von Ronald Koeman in den kommenden Monaten immer hinterherrannte. Bis die Qualifikation dank eines 2:1-Erfolgs gegen Irland am zweitletzten Spieltag doch noch gesichert war.
Diesmal blieb Koeman
Insofern war der Tenor im Vorfeld des Turniers doch eher zurückhaltend, und als die Gruppenphase als bester Drittplatzierter überstanden war, die «Elftal» aber gerade einmal die Partie gegen Polen hatte siegreich gestalten können, war der Glaube im Umfeld doch eher gering daran, dass die Reise für diese Niederländer viel weitergehen könnte als bis in die Achtelfinals.
Nach einem überzeugenden 3:0 gegen Rumänien und einem eindrucksvollen 2:1 nach Rückstand dank zwei späten Treffern gegen die Türkei steht die Niederlande aber erstmals seit zwanzig Jahren wieder in einem EM-Halbfinal. Zum sechsten Mal insgesamt, wobei sie erst einmal als Sieger vom Feld gehen konnte. 1988, als sie in Deutschland ihren bisher einzigen EM-Titel dank eines 2:0-Erfolgs im Final gegen die Sowjetunion bejubelte.
Ronald Koeman bildete damals zusammen mit Frank Rijkaard die Innenverteidigung dieses Teams. Heute ist er als Bondscoach erstmals bei einer EM dabei. Zum letzten kontinentalen Wettbewerb 2021 hatte er Oranje auch schon geführt. Bevor das paneuropäische Turnier allerdings startete, wurde er für vier Millionen Euro vom FC Barcelona abgeworben.
Schlagzeilen im Oktober 1993
Seit Anfang 2023 ist der 61-Jährige zurück in der Verantwortung – und bekommt nun mit dem Spiel gegen England ein Duell, dem spätestens seit dem 13. Oktober 1993 dank ihm eine spezielle Note anhaftet. Damals treffen sich die Niederländer und die Engländer in der Qualifikation zur WM 1994. Ein Unentschieden würde den Three Lions zur Qualifikation genügen. Koeman spielt da immer noch in der Innenverteidigung. Als er einen langen Ball unterschätzt, kann er den Engländer David Platt nur noch regelwidrig stoppen. Statt auf Platzverweis wegen Notbremse zu entscheiden, belässt es der Schiedsrichter bei einer Verwarnung. Wenig später trifft Koeman mit einem gefühlvollen Freistoss zum 1:0.
Es ist der Moment, der den Niederländer nach Nationaltrainer Graham Taylor zum meistgehassten Menschen auf der Insel werden lässt, denn nach der 0:2-Niederlage verpassen die Engländer das Turnier in den USA.
Natürlich wird diese alte Geschichte auch im Vorfeld des Halbfinals in Dortmund wieder hervorgeholt. Als Micky van de Ven und Cody Gakpo darauf angesprochen werden, zucken die beiden mit den Schultern. Der 23-jährige Innenverteidiger und der 25-jährige Offensivspieler waren noch gar nicht auf der Welt, als ihr jetziger Coach für derlei Schlagzeilen sorgte.
Gakpo «noch nicht fertig»
Deshalb wollen sie sich auch aufs Hier und Jetzt konzentrieren. Gakpo, mit drei Treffern Topskorer des Turniers, sagt: «Es war bisher ein wunderbares Turnier für uns, aber wir sind noch nicht fertig.» Als Koeman darauf angesprochen wird, gegen wen er denn in einem allfälligen Final lieber spielen möchte, antwortet er mit Spanien, weil Frankreich in Qualifikation und Gruppenphase bereits ihr Gegner war.
Die Niederländer bewegen sich also nicht nur nach links und nach rechts, sondern sie wollen auch weiter vorwärts – zum Final nach Berlin.