Die «Three Lions» sind verunsichert
Das englische Nationalteam vermag an dieser EM nicht zu überzeugen. Gegen die Schweiz sind die «Three Lions» im Viertelfinal zu Umstellungen gezwungen.
Was haben Gary Neville, Harry Redknapp, Jürgen Klinsmann and Alan Shearer gemeinsam? Sie alle sind während der Europameisterschaft in Deutschland als Kolumnisten für das britische Boulevardblatt «The Sun» tätig.
Und die drei Engländer und der Deutsche tun in dieser Rolle das, was dieser Tage wohl alle tun, die den Weg des englischen Nationalteams an der EM bisher verfolgt haben. Sie mutmassen und werweissen, sie argumentieren und diskutieren. Sie alle versuchen, sich in den Kopf von Nationaltrainer Gareth Southgate zu versetzen und zu prognostizieren, mit welchen elf Spielern die «Three Lions» wohl am Samstag in Düsseldorf (18 Uhr) in den Viertelfinal gegen die Schweiz starten werden. Und vor allem: In welchem System?
Guéhis Ausfall ändert alles
Es sind Fragen, die sich gemeine Fussball-Interessierte vor jeder beliebigen Partie stellen, und derlei Diskussionen sind auch Teil der Faszination für diese globale Sportart Fussball. Im Umfeld der Engländer haftet diesen Diskussionen aber eine gewisse Dringlichkeit an. Denn Southgate wird in seinem 100. Länderspiel als Nationaltrainer zu Umstellungen gezwungen.
Mit Marc Guéhi fehlt ein Innenverteidiger nach der zweiten gelben Karte im Achtelfinal gegen die Slowakei (2:1 n.V.) gesperrt. Der 23-jährige Akteur von Crystal Palace bestreitet in Deutschland sein erstes grosses Turnier, und ist offensichtlich in den vier Spielen schon zum schier unverzichtbaren Puzzleteil geworden in Southgates traditioneller Viererabwehr.
Mit Ezri Konsa von Aston Villa stünde ein Ersatz bereit, der den Platz neben Abwehrchef John Stones einnehmen könnte. Und die Mehrheit der erwähnten Kolumnisten plädiert auch dafür, dass England nicht von ihrem Spielsystem abweicht. Es gibt aber auch diejenigen, die England gern mit einer Dreierabwehr agieren sähen. Nicht nur aufgrund von Murat Yakins Aussage nach dem Sieg gegen Italien (2:0), er habe gewusst, dass die Schweiz den Gegner «kaputt» machen würde, als er gesehen habe, dass die Italiener mit einer Viererabwehr agierten.
Stones’ Vertrauen
Aber der Auftritt der Schweiz hat durchaus Eindruck hinterlassen bei den Engländern. «Die Schweizer sind ein gutes Team», sagt Stones, als er am Donnerstag im Schloss Blankenhain vor den Medien sitzt. Die Systemfrage ist im mittelalterlichen Bau omnipräsent, und Stones versucht, dem Thema die Brisanz zu nehmen.
«Wir spielen schon so lange zusammen, wir können verschiedene Systeme und Formationen spielen», sagt der 30-Jährige. Und auch die Frage, wer neben ihm verteidigen wird, bringt den Klubkollegen von Manuel Akanji nicht aus der Ruhe: «Ich vertraue allen meinen Teamkollegen. Egal, wer reinkommen wird, hat es verdient zu spielen, und es wird hoffentlich ein reibungsloser Wechsel.»
Natürlich muss Stones das sagen. Aus dem ganzen Diskurs um Aufstellung und Umstellungen lässt sich vor allem aber auch herausspüren, dass die Schweiz am Samstag nicht auf einen gefestigten Gegner trifft, der mit dem Selbstbewusstsein agiert, mit Jude Bellingham, Phil Foden und Harry Kane in der Offensive über drei der besten Spieler der Welt zu verfügen. Der als Finalist der letzten EM von den eigenen Qualitäten überzeugt ist. Und der in einen Viertelfinal gegen die Schweiz mit dem Selbstverständnis steigt, auf jeden Fall als Sieger vom Platz zu gehen.
Wendepunkt oder Wunschdenken
Vielmehr sagt Stones einmal: «Wir sind stolz, an diesem Turnier die Viertelfinals erreicht zu haben.» Und vermittelt so das Bild des bescheidenen Underdogs, und nicht des stolzen Mitfavoriten. Die bisherigen Auftritte an der EM haben im Lager der Engländer Zweifel geschürt. In keiner der vier Partien vermochte das Team von Gareth Southgate zu überzeugen, und der Coach, der sich seit seinem Amtsantritt im September 2016 an jedem Turnier teils harscher Kritik ausgesetzt sieht, wurde nach dem Gruppenspiel gegen Slowenien (0:0) von Fans mit Bierbechern beworfen.
«Wir wissen, dass die Nation hinter uns ist und sich wünscht, dass wir hier etwas schaffen, das wir noch nie erreicht haben», sagt Stones. «Es ist frustrierend, dass wir bisher nicht unser Level erreichen konnten.» Aber der Abwehrpatron, der bei Manchester City eine durchzogene Saison erlebte und lediglich in zwölf Partien in der Startaufstellung stand, glaubt, dass das Team gerade aus dem in letzter Sekunde abgewendeten Ausscheiden in den Achtelfinals wird Kraft schöpfen können.
«So ein Erlebnis kann ein Wendepunkt für uns sein, der uns als Team noch näher zusammenbringt.» Ob das Wunschdenken ist und das fragil wirkende Gefüge der englischen Mannschaft gegen die Schweiz wie ein Kartenhaus einstürzt, wird sich am Samstagabend in Düsseldorf weisen. Bis dahin bleibt allen nur das Mutmassen und Werweissen.