So kam der neue Zusammenhalt im Nationalteam zustande
Werden die Auftritte des Nationalteams vom letzten Herbst mit denjenigen an der EM verglichen, ist es kaum zu glauben, dass es sich um die gleiche Mannschaft handelt. Was ist dazwischen passiert?
Es war der 21. November, als die Schweizer mit steinerner Miene vom Rasen in Bukarest trotten. Ausgerechnet dort, wo sie zwei Jahre zuvor mit dem Penaltysieg im EM-Achtelfinal gegen Frankreich den vielleicht schönsten Sieg der Verbandsgeschichte gefeiert hatten. Der Unterschied zu den Jubelbildern von damals könnte kaum grösser sein: Jetzt herrschte Konsternation. «Das sitzt sehr tief, ich weiss gar nicht, was ich sagen soll», sagte etwa Manuel Akanji.
Die 0:1-Niederlage gegen Rumänien war der Tiefpunkt einer schwachen Qualifikation. In einer Gruppe, in der die Schweiz als klarer Favorit galt, resultierten am Ende vier Siege (zwei gegen Andorra), fünf Unentschieden und eine Niederlage. Das sei «keine schöne Bilanz», räumte auch Nationalmannschaftsdirektor Pierluigi Tami ein. Dass man sich als schlechtester Zweiter dennoch das EM-Ticket sicherte, lag vor allem an den noch schwächeren Gegnern.
Und doch schien bereits etwas passiert zu sein. Nachdem sich Captain Granit Xhaka monatelang nicht zu seinem Verhältnis zu Murat Yakin geäussert hatte, stellte er sich nach der Niederlage in der rumänischen Hauptstadt demonstrativ hinter den Trainer. «Was kann er dafür, dass wir unsere Chancen nicht nutzen?», fragte er in die Reporterrunde. Und auf die Frage, ob die Schweiz mit Yakin an die EM fahre, antwortete Xhaka: «Ich hoffe es.»
Faktor Aufarbeitung
Wie weit die Aufarbeitung der Meinungsverschiedenheiten da schon fortgeschritten war, ist offen. Sicher ist, dass Trainer und Captain spätestens nach der Qualifikation viel Zeit investiert haben, um einen gemeinsamen Weg zu finden. Mehrmals wurde Xhaka von Yakin in Deutschland besucht, wobei sich die Gespräche laut Xhaka «zu 80 bis 90 Prozent» nicht um Fussball drehten.
Yakin hatte erkannt, dass er seinen Captain, der mit seiner starken Persönlichkeit die Mannschaft tragen, aber auch runterziehen kann, mehr in seine Überlegungen einbeziehen muss. Oder wie es Xhaka kürzlich selber sagte: «Ich bin ein Mensch, der das Vertrauen und die Wärme des Trainers brutal braucht. Und das ist mittlerweile bei Muri sehr, sehr, sehr gut.»
Um an diesen Punkt zu gelangen, an dem Trainer und Captain in regem Austausch stehen und voneinander profitieren, mussten sich beide etwas zurücknehmen. Yakin, der schon als Spieler immer wieder Machtkämpfe angezettelt hatte, ebenso wie Xhaka, der gerne provoziert, um Reaktionen hervorzurufen. Beim Captain dürfte auch die Trainerausbildung dazu beigetragen haben, neue Sichtweisen zu entwickeln und den Blick fürs grosse Ganze zu schärfen.
Faktor Bestätigung
Neben der Versöhnung der Alphatiere ist im Frühjahr noch etwas anderes passiert: Viele Nationalspieler feierten mit ihren Vereinen grosse Erfolge. Neben der oft erwähnten Meisterachse um Yann Sommer (Inter), Manuel Akanji (Manchester City) und Granit Xhaka (Leverkusen) holten sich auch viele andere Schweizer bei ihren Klubs in europäischen Topligen wichtige Bestätigung.
Zum Beispiel das Bologna-Trio mit Remo Freuler, Michel Aebischer und Dan Ndoye, das nun auch an der EM auftrumpft. Aber auch Fabian Schär, der mit Newcastle eine starke Champions-League-Kampagne zeigte und nun endlich auch im Nationalteam die Leistungen abruft, die er im Klub regelmässig zeigt. Zudem tragen mehrere Schweizer in ihren Vereinen die Captainbinde und übernehmen damit eine wichtige Rolle.
Selbstbewusst konnten die Spieler den Flow in die Nationalmannschaft mitnehmen und auf die Spieler übertragen, die in ihren Vereinen nicht so viele Erfolge feiern konnten. Egal welchen Spieler man fragt, alle betonen die ausserordentlich gute Stimmung im Team. Auch die Trainingsintensität, die im Herbst noch bemängelt wurde, sei aussergewöhnlich hoch. So wie manchmal der Appetit beim Essen kommt, ist diese Mannschaft getrieben von einem neuen Erfolgshunger.
Faktor Contini
Nach dem Abgang von Vincent Cavin Ende letzten Jahres wurde Yakin im Februar ein neuer Mann an die Seite gestellt: Giorgio Contini, wie Yakin Jahrgang 1974 und ein ehemaliger Weggefährte. Vor 13 Jahren hatten die beiden als «junge, frisch ausgebildete Trainer mit vielen Ideen im Kopf» (Contini) beim FC Luzern gearbeitet und die Mannschaft auf Anhieb auf den zweiten Platz geführt. Auch wenn sich danach die Wege trennten, entwickelte sich schnell wieder eine besondere Chemie zwischen ihnen.
Der frische Wind, den Contini in das Team gebracht hat, war schon beim ersten Zusammenzug des Jahres im spanischen La Manga deutlich zu spüren. Mit seiner Mehrsprachigkeit und seinem Enthusiasmus kann er alle Spieler mitreissen. So schwärmte Silvan Widmer: «Er hat einen super Draht zu uns Spielern und ist ein grosser Motivator. Ich kannte ihn vorher gar nicht, aber jetzt bin ich sehr froh, dass er bei uns ist.»
Und auch Yakin betonte: «Giorgio ist ein Glücksfall für uns.» Als die Stelle frei wurde, habe er schnell an ihn gedacht. Allerdings befürchtete Yakin, dass Contini nach seinen verschiedenen Stationen als Cheftrainer kein Interesse daran haben könnte, als Assistent zu arbeiten. «Aber ich sehe ihn nicht als Assistenten. Er ist das, was für mich früher ein Mitspieler war, ein Mittrainer sozusagen.» Die Begegnung auf Augenhöhe ist für beide Seiten wichtig, der Austausch hat mitunter zu den mutigen Entscheidungen geführt, die bei der EM bisher durchschlagenden Erfolg hatten.