N’Golo Kanté schafft das Comeback aus der Wüste
N'Golo Kanté ist nach fast zwei Jahren Absenz in Frankreichs Nationalteam zurückgekehrt. Dort versetzt er alle in Staunen.
Seit N’Golo Kanté wieder im Kreis der Nationalmannschaft ist, reisst der Hype um den Mittelfeldspieler nicht ab. Dabei sind die Teamkollegen die grössten Bewunderer seiner Laufbereitschaft und Intensität. «Ich habe das Gefühl sie sind zu dritt eingerückt», staunte Marcus Thuram im Mai nach wenigen gemeinsamen Trainingstagen im Leistungszentrum von Clairefontaine in der Nähe von Paris.
Mittlerweile beeindruckt Kanté in Paderborn, wo Frankreich sein EM-Camp bezogen hat, und zuletzt vor allem in Düsseldorf, wo er gegen Österreich als «Man of the Match» geehrt wurde. Als er nach dem Empfang der kleinen Trophäe am Montagabend in die Kabine kam, wurde er von seinen Mitspielern mit grossem Applaus empfangen. «Es ist verrückt, einfach verrückt», kommentierte Youssouf Fofana die Leistung von Kanté im kurzen Clip des französischen Verbandes.
2018 war Kanté ein entscheidender Bestandteil auf dem Weg zum WM-Titel gewesen. Er wurde innerhalb von einigen Wochen zum Liebling der Fans, weil er ohne Unterbruch lief und kämpfte, immer bescheiden auftrat und für alles ein Lächeln parat hatte. Als die damaligen Weltmeister im September 2018 im Stade de France einzeln geehrt wurden, machte das volle Stadion bei keinem Spieler mehr Lärm als bei Kanté.
Surpise du Chef
Dass der nur 168 Zentimeter grosse Dauerläufer eine Rückkehr auf die grosse Bühne schafft, hatte noch vor wenigen Wochen niemand erwartet. Kein Experte in Frankreich rechnete mit N’Golo Kanté unter den für die EM aufgebotenen Spielern. Erst einen Tag bevor Nationalcoach Didier Deschamps seine Selektion Mitte Mai bekannt gab, sickerte in Form von Gerüchten die Information durch. In den Kommentaren dazu hielten sich in Frankreich Freude und Skepsis in etwa die Waage.
Kanté war monatelang aus dem Blickfeld der französischen Fans geraten, zuerst, weil er beim FC Chelsea oft verletzt war und dann durch seinen Wechsel nach Saudi-Arabien zu Al-Ittihad im letzten Sommer. Wie der Schweizer Nationalcoach Murat Yakin, der auch aufgrund von Leistungsdaten über die mögliche Selektion vom in den Vereinigten Arabischen Emiraten spielenden Haris Seferovic entschied, sah auch Deschamps genau hin. Er kam zum Schluss, dass Kanté trotz Fussball bei grosser Hitze und kleinerer Intensität weiterhin auf bestem Niveau spielen kann.
Gelungener Neustart
Für Kanté war der Wechsel nach Saudi-Arabien nicht nur lukrativ, sondern auch ein kleiner Befreiungsschlag. Der im Pariser Vorort Suresnes aufgewachsene Spieler hatte nach dem WM-Titel einige Probleme mit zwielichtigen Gestalten aus seiner Vergangenheit und war nach dem Champions-League-Titel mit Chelsea 2021 oft verletzt. Der Neustart in der Wüste bekam ihm gut. Er habe sich weiterentwickelt, erklärte der heute 33-Jährige. «Ich habe gelernt, mehr Verantwortung zu übernehmen.»
Der grosse Redner sei Kanté noch immer nicht, meinte Mittelfeld-Partner Adrien Rabiot. «Aber er ist ein Leader durch seinen Einsatz.» Im ersten Vorrundenspiel gegen Österreich spulte Kanté am meisten Kilometer ab und schloss so gekonnt wie eh und je die Lücken. Den Einsatz schraubt er nie zurück. «Es ist schrecklich», kommentierte Thuram lachend. «Man kann keine Trainingsspiele mehr machen. Wenn man ihn im Team hat, weiss man, dass man gewinnen wird.»
Knacknuss für Deschamps
Anders als die meisten französischen Topspieler schaffte Kanté den Sprung zum Profi nicht über die Akademie eines Topklubs, sondern ging den harten Weg über die 3. und 2. Liga Frankreichs, bevor er 2015/16 als grosse Saisonentdeckung der Premier League entscheidend zum sensationellen Meistertitel von Leicester beitrug. Der damalige Chefscout der Engländer, Steve Walsh, beschrieb damals das Spiel seiner Mannschaft so: «Leicester spielt mit einem Dreier-Mittelfeld, Danny Drinkwater in der Mitte und Kanté auf beiden Seiten.»
Walsh begründete damit die zuletzt wieder zunehmend beliebten Kanté-Witze, die ähnlich funktionieren wie jene von Chuck Norris. Wie hoch Kanté, den sie im Team N.G. (En-Tsche) nennen, wieder im Kurs steht, zeigte sich gegen Österreich nach der Auswechslung von Kylian Mbappé, als er die vakante Captainrolle übernehmen durfte. Weil nun mit Aurélien Tchouaméni der eigentlich gesetzte Sechser nach Verletzungspause für das Spiel am Freitagabend gegen die Niederlande wieder ins Team zurückkehrt, steht Deschamps vor einem Problem. Er hat sich verrechnet: Für die ihm zugedachte Rolle des Statthalters ist Kanté schlicht zu gut.