Captain Granit Xhaka über Entwicklungen und sehr gute EM-Vibes
Eine Woche vor dem Start zu seinem sechsten grossen Turnier mit der Schweizer Nationalmannschaft gewährt Granit Xhaka einen umfassenden Einblick in seine positive Gemütslage.
Der SFV-Captain erklärt im grossen Keystone-SDA-Interview, weshalb der EM-Gastgeber Deutschland «ein zweites Zuhause ist» und was sich seit dem Achtelfinal-Absturz in Katar grundlegend verändert hat.
Nach einer Saison der beispiellosen Bayer-Superlative ist der bald 125-fache Rekord-Nationalspieler voller Zuversicht und Energie eingerückt: «Wenn mal als Meister kommt, ist der Hunger riesig wie nie zuvor.» Ihm ist bewusst, dass die kommende Endrunde für seine Generation «das letzte gemeinsame Turnier sein könnte».
Leverkusens Trainer Xabi Alonso rühmte Sie nach dem Sieg im Cup explizit: «Granit hat mir extrem viel an Arbeit abgenommen.» Sie seien in dieser fabelhaften Saison sein verlängerter Arm gewesen. Fühlt sich das wie Honig im Mund an?
«Es ist eine grosse Ehre, von einem solchen Trainer solche Komplimente zu erhalten. Es passte vom ersten Tag an, als er mich in London besucht hat. Wir haben früh über konkrete Ziele gesprochen. Es stimmte für mich sofort auf dem Platz – auch dank Alonso. Er hat als Spieler sehr viel erlebt und schickte mich mit viel Verantwortung auf den langen Weg.»
Vor dem Endspiel in Berlin hat Alonso in der Garderobe die Leader reden lassen.
«Nach dem Spiel gegen Atalanta (0:3 im Europa-League-Final) waren alle am Boden. Ich schlucke so etwas anders als ein Frimpong oder Wirtz. Ich hatte das Gefühl, dass ein paar mehr Mühe hatten mit der Verarbeitung als ich. Deshalb war es wichtig, hier zu helfen, wieder Schwung reinzubringen. Ich allein hätte das natürlich nicht geschafft – mit Lukas (Hradecky), mit Rob Andrich, mit Jonathan (Tah) haben wir Persönlichkeiten, welche diesen Prozess vereinfachten. Ich bin ein emotionaler Spieler – der Austausch mit ihnen war für mich überaus hilfreich mit Blick auf das grosse Bild. Sie haben dazu beigetragen, dass ich mich menschlich enorm entwickelt habe in den letzten zwölf Monaten.»
Apropos enorm: Ihre Präsenzzeit ist auffallend gross. Auf 60 Spiele kommen Sie inzwischen. Nebenbei machten Sie die UEFA-A-Trainerlizenz. Wie bringen Sie alles unter einen Hut? Wo laden Sie die Batterien auf?
«Es kam in der Tat viel zusammen. Die Erfolge mit Leverkusen, dann einmal pro Woche ein Training als Coach beim Schwager. Oft stand ich dort zusätzlich zum Bundesliga-Pensum an der Seitenlinie. Nach dem Wegzug aus England hätte ich eigentlich mit etwas mehr Ruhe gerechnet (lacht). Woher nehme ich die Energie? Alles dreht sich um das Mindset. Im Kopf beginnt es. Ich war nie einer, der sich müde fühlte. Mich mussten primär die Trainer stoppen.»
Denken Sie inzwischen manchmal selber wie ein Trainer?
«Das ist so. Ich stehe in der Ausbildung eine Stufe vor der UEFA-Pro-Lizenz. Wenn ich gewusst hätte, wie gut mir diese Schulung tut, wäre ich noch früher eingestiegen. Aber wahrscheinlich bin ich damals gar nicht bereit gewesen dafür. Inzwischen sehe ich den Fussball aus zwei Perspektiven. Ich unterhalte mich oft mit Xabi Alonso darüber, wie er die Trainings gestaltet, weshalb er sie an diesem oder jenen Tag ansetzt. Aber ich will natürlich so lange wie möglich der Fussballer Xhaka bleiben.»
Welchen Fussballer Granit Xhaka werden wir in den nächsten EM-Wochen sehen?
«Wenn man als Meister kommt, ist der Hunger riesig wie nie zuvor. Es ist nicht so, dass ich in den Jahren vorher nie etwas gewonnen hätte, aber ein solcher Titelgewinn löst etwas aus, das mit Worten kaum richtig zu beschreiben ist. Die vielen Treffen und Gespräche mit Muri haben mir ebenso gutgetan. Wir haben dabei zusammen grosse EM-Ziele definiert und werden gemeinsam alles dafür tun, sie zu erreichen. Ich will das Team maximal unterstützen, den Trainer, den Staff, ich will als Captain und Leader vorangehen.»
Stephan Lichtsteiner, Ihr Vorgänger als Captain der SFV-Auswahl, hat über die Schwierigkeit gesprochen, nach einer langen Saison auf den Punkt die Bereitschaft zu entwickeln, wieder den Energiekreislauf anzuzapfen.
«Er hat recht. Wenn einer über das reden darf, ist es sicher Steph. Er hat eine solche Situation mehrfach erlebt. Deshalb war es gut von Muri, allen gestaffelt ein paar Freitage einzuräumen. Wir haben nach einer langen Saison einen seriösen Mix gefunden bei den Einheiten. Die Intensität hat mir gefallen, der Spass kam ebenfalls nicht zu kurz. Der Fokus stimmt genau, die Atmosphäre ebenso. Wir hören aufeinander, die Mannschaft lebt.»
Sind Ihre Ausführungen auch das Ergebnis der Aufarbeitung der am Ende missratenen WM-Kampagne in Katar?
«Vielleicht werden es einige nicht gern hören: Aber die Phase im Herbst mit den vielen sieglosen Spielen in der EM-Qualifikation hat uns womöglich nicht geschadet. Klar, die damalige Momentaufnahme tat weh. Aber mit etwas Distanz empfinde ich diese Schwankungen als lehrreich. Das Team streckte die Köpfe zusammen. Jedem war klar: In einer solchen Verfassung können wir nicht an die EM reisen. Ich bin überzeugt, dass sich das Trainer-Team die gleichen Gedanken gemacht hat wie wir. Mein Gefühl sagt, dass wir wieder auf einem guten Weg sind. Aber klar, am 15. Juni zählt es gegen Ungarn – dann wird sicherlich eine hungrige Schweiz auf dem Rasen stehen, die Erfolg haben will.»
Ihre Zuversicht ist unüberhörbar.
«Die Saison ist für viele meiner Teamkollegen sehr gut verlaufen. Gute Meisterschaften, gute Transfers, gute Leistungen. Das war ein positives Thema innerhalb der Nationalmannschaft. Weshalb schaffte Bologna mit Freuler, Aebischer und Ndoye überraschend die Qualifikation für die Champions League? Oder der Meisterschaftsgewinn mit Leverkusen. Das sind Dinge, die einem Vertrauen geben, die zeigen: Man kann es schaffen, wenn man daran glaubt, viel investiert, viel arbeitet, viel will. Weshalb sollte uns so etwas nicht auch mit der Schweiz gelingen? Was spricht dagegen, dass wir das Überraschungs-Team der EM werden? Im Camp habe ich diese Mentalität wahrgenommen. Deshalb sage ich: Lasst es uns auf den Platz bringen.»
Sie haben persönlich hohe Erwartungen – was fordern Sie von den Mitspielern ein?
«Meinerseits sind sie immer hoch. Auch das Umfeld erwartet sehr viel. Damit kann ich umgehen, aber ich kann nicht alles allein stemmen. Ich machte Muri klar, dass ich Leute brauche, die mich unterstützen. Im Verein haben viele Verantwortung übernommen, im Nationalteam hingegen weniger. Ich habe das Gespräch diesbezüglich mit einigen gesucht – auch mit Manu (Akanji). Er spielt seit Jahren auf einem Top-Top-Niveau. Nun muss er auch hier vermehrt Leadership übernehmen – ich brauche einen Yann (Sommer), einen Remo (Freuler), einen Zakaria, einen Shaq sowieso. Es geht nicht nur um Granit, Granit, Granit! Es geht um die nötige Unterstützung auf und neben dem Platz.»
Für gute Vibes sorgte abseits des Rasens in diesen Tagen Marco Odermatt. Der Ski-Superstar besuchte das SFV-Camp. War das Treffen mit ihm inspirierend?
«Marco hat mich brutal überzeugt. Er löste bei mir einen regelrechten Flash-Moment aus. Muri (Yakin) fragte Odermatt, was ihn schneller mache. Das Material sei doch bei allen ähnlich gut. Er antwortete: ‘Wenn ich Freunde sehe, die Ferien machen, und ich seit fünf Wochen in der Vorbereitung stecke.’ Das ist für mich das A und O. Die Vorbereitung nimmst du in die komplette Saison mit. Ich halte es seit vier, fünf Jahren genau gleich. Ich erkannte mich in ihm wieder. Seine Antwort auf Muris Frage zeigte mir: Mein Weg stimmt.»
Es könnte sein, dass die Nationalmannschaft in ihrer aktuellen Besetzung unter Umständen das letzte grosse Turnier spielt.
«Vielleicht hat sich der Gedanke im Kopf von ein paar Spielern festgesetzt, dass es das letzte gemeinsame Turnier sein könnte. Die Qualifikation für die WM 2026 garantiert uns niemand. Aber ich glaube, die aktuelle Generation hat es sich verdient, noch eine eigene Geschichte zu schreiben. Wir passen zusammen, die Gruppe lebt, sie hat Freude, das Lachen im Gesicht ist jeden Morgen zu sehen. Jeder will Erfolg haben.»
Deutschland ist für Sie aus verschiedenen Gründen ein aussergewöhnliches EM-Land. Der Start der Karriere im Ausland war 2012 in Mönchengladbach, im Sommer vor einem Jahr folgte in Leverkusen das Bundesliga-Comeback. Ihre Frau stammt ebenfalls aus Nordrhein-Westfalen.
«Deutschland ist für mich wie ein zweites Zuhause. Schon vor meinem Transfer zu Bayer sagte ich zu meiner Frau, dass ich eigentlich unbedingt zurückkehren möchte. Im Moment der Unterschrift wusste ich genau: Hier bin ich zu Hause. Ich habe entscheidende Jahre meiner Karriere in diesem Land verbracht. Deutschland gibt mir etwas Besonderes. Wir fühlen uns hier wohl.»
Die Schweiz trifft zum Abschluss der Gruppenphase auf Deutschland. Es kommt viel zusammen – oder?
«So weit will ich gar nicht denken und jetzt etwas Falsches sagen. Deshalb halte ich mich an unser Credo bei Leverkusen – Spiel für Spiel. Aber klar, es wird ein spezieller Moment sein. Mich macht schon stolz, hier eine EM spielen zu dürfen. Ich kenne jeden Stadionwinkel, ich weiss, wie viele Fans aus der Schweiz anreisen werden. Die Familie ist in der Nähe. Es wird einmalig sein.»
Was erhoffen Sie sich vom Projekt EM 2024?
«Ziel Nummer 1: die Gruppenphase überstehen. Sollten wir das nicht schaffen, wäre es enttäuschend. Kommen wir weiter, nehmen wir Step by Step. Ich bin überzeugt, dass wir noch besser auftreten werden als beim Turnier in Katar.»