Verstappens uneingeschränkte Herrschaft wackelt
Die Formel 1 befindet sich im längst erhofften Wandel. Weltmeister Max Verstappen im Red Bull kann sich der uneingeschränkten Herrschaft nicht mehr sicher sein.
Die Zahlen hatten nicht gelogen. Die Referenzwerte, errechnet aufgrund der Ergebnisse der vorsaisonalen Testfahrten, bestätigten sich im Ernstkampf auf Anhieb. Die erste Runde des Wettrüstens hatten die Techniker des Teams Red Bull deutlich für sich entschieden. Max Verstappen schaltete und waltete erneut so, wie es ihm beliebte, wie er es schon in den beiden vorangegangenen Saisons getan hatte. Einem Monster gleich hatte er sich auf den Rennpisten wieder breit- und alles von den Kontrahenten Heraufbeschworene plattgemacht.
Die internen Unruhen rund um die von Teamchef Christian Horner losgetretene Affäre wegen «unangemessenen Verhaltens einer Mitarbeiterin gegenüber» vermochten dem Niederländer in seinem sportlichen Alltag nichts anzuhaben. Die Formel 1 trat an der Hierarchie-Spitze weiter an Ort, nichts war zu sehen von Veränderungen, von Anzeichen von Spannung. Die Monotonie hatte die bedeutendste Klasse des Automobil-Rennsports wieder fest im Griff.
Die zeitlichen Differenzen zu seinen Gunsten bei den ersten vier Grand-Prix-Siegen in diesem Jahr zusammengerechnet, betrug Verstappens Vorsprung über eine Minute – niederschmetternde Werte für die Konkurrenz in einer Welt, in der oft Hundertstel oder Tausendstel die entscheidenden Zeiteinheiten sind. Die Ankündigungen, dem Primus näherrücken zu wollen, entpuppten sich als Worthülsen. Sie schienen wie Schall und Rauch.
Auf die Worte folgten lange keine Taten. Noch vor einem Monat präsentierte sich die Lage unverändert. Bei der Rückkehr nach China, am ersten Rennwochenende seit fünf Jahren in Schanghai, gewann Verstappen den Grand Prix und die Sprintprüfung mit über 13 Sekunden Vorsprung.
Nächstes Zeichen der Hoffnung
Seither tat sich nun aber doch was – in einem Umfang sogar, der in dieser Grössenordnung unerwartet kam. Am Pfingstsonntag in Imola waren es noch gut sieben Zehntel, die Verstappen vor dem in der Schlussphase stark aufkommenden Lando Norris im McLaren ins Ziel rettete. Ein Hauch von Zeit als Dokument eklatanter Fortschritte, ein weiteres Zeichen der Hoffnung auch. Eine Annäherung, die vor zwei Wochen in Miami mit dem Sieg des Engländers so richtig Fahrt aufgenommen hatte.
Den Befreiungsschlag in Florida hatten die umfassenden Anpassungen am Auto mit Norris am Steuer möglich gemacht. Wie aus dem den Zuständigen der FIA vorgelegten Bericht ersichtlich war, gab es kaum eine aerodynamische Komponente, die am orangen Wagen mit der Nummer 4 nicht verändert wurde. Norris’ Teamkollege Oscar Piastri musste sich mit dem vollumfänglichen Paket von Neuerungen bis zu diesem Wochenende gedulden. In Imola überzeugte der junge Australier mit Rang 4.
Im vor noch nicht allzu langer Zeit tief gefallenen Traditionsrennstall sahen sie Licht am Ende des langen Tunnels. Norris lieferte mit seinem Triumph in Florida, seinem ersten in der Formel 1, die Bestätigung fürs richtige Tun an der Basis des Teams in Woking. In der englischen Grafschaft Surrey fühlten sie sich nach Jahren des Bettlertums endlich wieder wie Könige.
Nächste Schritte in Planung
Der Sieg von Norris war nicht nur teamintern eine Erlösung, sondern auch für all jene, die nicht mit der Equipe Red Bull verbandelt sind oder ihre Sympathie nicht für den Rennstall mit den zwei roten Stieren im Emblem bekunden. Die Crew um den italienischen Teamchef Andrea Stella zeigte auf, dass es mit zielorientierter, akribischer Arbeit möglich ist, für Rahmenbedingungen zu sorgen, dank denen selbst dem Besten der Szene auf Augenhöhe begegnet werden kann. Und es soll noch besser werden. Gemäss Stella sollen die in Miami erstmals zum Einsatz gekommenen Lösungen erst der Anfang gewesen sein. Weitere Optimierungen sind in Planung.
Optimierungen zuhauf hatten auch die Ingenieure der Scuderia Ferrari für den Heimauftritt in Imola bereitgestellt. Am meisten stachen an den SF-24 die Veränderungen an den Seitenkästen beziehungsweise die Lufteinlässe ins Auge. Weiterentwicklungen gab es zudem unter anderem am Front- und Heckflügel, an der Motorabdeckung und am Diffusor. Der Schritt war wohl nicht so gross wie jener des Teams McLaren. Der ganz grosse Wurf blieb Charles Leclerc und Carlos Sainz (noch) verwehrt.
Die Plätze 3 und 5 für den Monegassen und den Spanier im Autodromo Internazionale Enzo e Dino Ferrari dürfen aber trotz leiser Enttäuschung ebenfalls als Schritt in die gewünschte Richtung betrachtet werden. Das Potenzial, Verstappen in nächster Zukunft noch intensiver fordern zu können, sehen sie auch in Maranello ausnahmslos, zumal sie nicht nur auf technischer, sondern auch auf personeller Seite aufgerüstet haben – und diesbezüglich den grösstmöglichen Coup vielleicht noch vor sich haben. Die Hoffnung, dass Adrian Newey nach seinem Abgang beim Rennstall Red Bull seine Arbeit in Zukunft in Rot verrichtet, lebt.
Blau gegen Orange und Rot – die Basis für eine buntere, mehr Spannung und Abwechslung versprechende Formel-1-Weltmeisterschaft scheint gelegt. Der von Norris in Imola knapp verpasste Sieg wird als nächstes untrügliches Zeichen gedeutet. Zahlen lügen ja bekanntlich nicht.