Ukraine wehrt sich an neuer Front bei Charkiw – Die Nacht im Überblick
Die Ukraine müht sich weiter, den russischen Angriff an ihrer Ostgrenze im Gebiet Charkiw zu stoppen. Die schwersten Gefechte gebe es bei den Orten Lipzy und Wowtschansk, teilte der ukrainische Generalstab im Lagebericht für Donnerstagabend mit. Die russische Offensive werde von Kampfflugzeugen durch den Abwurf von Gleitbomben unterstützt. Zugleich heiss es: «Die Einheiten der Verteidigungskräfte halten die Linie und verhindern, dass die Angreifer in die Tiefen unseres Territoriums vordringen.» Unabhängige Bestätigungen dafür gab es nicht.
Präsident Wolodymyr Selenskyj reiste am Donnerstag in die Nähe der neuen Front und beriet mit den Militärs. Die Nacht auf Freitag begann für die östlichen Gebiete der Ukraine mit Luftalarm. Der Luftwaffe zufolge waren mehrere Schwärme russischer Kampfdrohnen im Anflug. In der Millionenstadt Charkiw waren nach Medienberichten Explosionen zu hören. Die Ukraine wehrt seit Februar 2022 eine grossangelegte russische Invasion ab, am Freitag wird der 814. Tag des Krieges gezählt.
Ukraine spricht von hohen russischen Verlusten bei Charkiw
Der russische Angriff nahe Charkiw hatte vergangene Woche begonnen. Relativ schnell besetzten die russischen Kräfte mehrere Dörfer an der Grenze. Ihr Vorstoss wurde dadurch begünstigt, dass die Ukraine ihre westlichen Waffen nicht gegen den Truppenaufmarsch jenseits der Grenze einsetzen durfte. Auch waren die vorderen Verteidigungsstellungen nicht so ausgebaut, wie es eigentlich angeordnet war. Wie an anderen Frontabschnitten gehe die russische Armee auch bei Charkiw ohne Rücksicht auf hohe eigene Verluste vor, teilte der Generalstab in Kiew mit.
Bei Wowtschansk etwa 40 Kilometer nordöstlich von Charkiw sei es gelungen, die Lage zu stabilisieren, sagte Selenskyj nach seinem Frontbesuch. «Unsere Gegenangriffe dauern an, ebenso wie in anderen Gebieten entlang der Grenze zu Charkiw», sagte er. Besonders heftige russische Angriffe verzeichnete das ukrainische Militär weiter südlich bei Pokrowsk.
Nato-Befehlshaber rechnet nicht mit russischem Durchbruch
Der Nato-Oberbefehlshaber in Europa, Christopher Cavoli, rechnet indes nicht mit einem strategischen Durchbruch der russischen Armee bei Charkiw. «Sie sind in der Lage, lokale Vorstösse zu machen, und das haben sie auch getan. Sie haben aber auch einige lokale Verluste erlitten», sagte er nach einem Treffen des Nato-Militärausschusses in Brüssel. Die Russen hätten nicht genug Streitkräfte, um einen strategischen Durchbruch zu erreichen. «Ich stehe in sehr engem Kontakt mit unseren ukrainischen Kollegen, und ich bin zuversichtlich, dass sie die Linie halten werden.»
Selenskyj klagt über Putins «leere Worte» zu Frieden
«Russland versucht, den Krieg auszuweiten, und begleitet ihn stets mit leeren Worten über den Frieden», sagte Selenskyj. Er reagierte damit auf Aussagen von Präsident Wladimir Putin bei dessen China-Besuch. Moskau und Peking nannten dort eine politische Einigung als geeigneten Ausweg aus dem Krieg, ohne dies näher zu erläutern. «Wir müssen Russland mit allen Mitteln zu einem echten, gerechten Frieden zwingen», sagte Selenskyj dagegen.
In einem Telefonat mit dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk warnte Selenskyj vor der Gefahr für Europa durch russische Luftangriffe auf die Gasinfrastruktur seines Landes. «Dagegen müssen wir gemeinsam vorgehen», sagte er. Die russische Luftwaffe hatte Ende März mit Marschflugkörpern und Raketen die oberirdischen Anlagen eines grossen unterirdischen Gasspeichers in der Westukraine beschossen. Trotz des Krieges leitet die Ukraine bis Ende 2024 noch russisches Gas in die EU durch. Sie nutzt die Speicher selber und bietet sie den EU-Nachbarländern an.
Monatelange Stromabschaltungen in der Ukraine nach Angriffen
Wegen der schweren Schäden an Kraftwerken und Umspannwerken in der Ukraine rechnet die Regierung mit monatelangen Stromabschaltungen. Erst ab August oder September sei mit einer Verbesserung zu rechnen, sagte Jurij Bojko, Berater des Ministerpräsidenten und Aufsichtsrat beim Versorger Ukrenergo (Ukrenerho), am Donnerstag in Kiew. Wie schon am Mittwoch gab es auch am Donnerstag regional gestaffelte Abschaltungen, um Strom zu sparen. Auch Strassenzüge in der Hauptstadt Kiew waren betroffen.
Im Angriffskrieg gegen die Ukraine hatte die russische Armee im März und April gezielt Kraftwerke, Umspannwerke und Stromleitungen aus der Luft beschossen. Die Produktionskapazität sank nach offiziellen Angaben um 44 Prozent. Die Stromproduktion aus Kohlekraftwerken ging fast vollständig verloren. Auch Wasserkraftwerke am Dnipro wurden beschädigt. Die Aussichten auf rasche Reparaturen sind schlecht. Die Stromproduktion aus Kernkraft funktioniert weitgehend. Auch Energieimporte aus Nachbarländern reichen nicht immer aus, die Lücke zu schliessen.
Lage im AKW Saporischschja gespannt
Die Lage im russisch besetzten Atomkraftwerk Saporischschja in der Südukraine bleibt nach Einschätzung der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA weiter gespannt. Das sagte der Leiter der UN-Behörde, Rafael Grossi, in Wien. Die IAEA tauschte ein weiteres Mal ihr Team von Experten aus, die in der grössten Nuklearanlage Europas Wache halten. «Die potenziellen Gefahren für die Anlage dauern an, und die Situation kann sich jeden Moment verändern.», sagte Grossi.
Die Experten hätten in den vergangenen Tagen Artilleriefeuer weiter weg und Gewehrfeuer dichter am Werk gehört. Soweit sie das Werksgelände betreten dürften, hätten sie bei Kontrollgängen keine schweren Waffen in dem AKW gesehen. Es gebe auch keine Hinweise, dass vom Werksgelände Drohnen gestartet worden seien. Russland und die Ukraine werfen einander immer wieder vor, die Atomanlage zu beschiessen.