Kanadas Königin der Kurzgeschichte: Nobelpreisträgerin Munro ist tot
Von ihrem ersten mit Kurzgeschichten verdienten Geld kaufte sich Alice Munro einst ein Schwangerschaftskleid. «Anfangs hatte ich meine Geschichten immer für kein Geld veröffentlicht, mir war gar nicht klar, dass man damit etwas verdienen kann», sagte die kanadische Autorin einmal in einem Interview. «Aber als ich dann Geld bekam, konnte ich rausgehen und mir ein Schwangerschaftskleid kaufen.» Sie habe sich schon immer viel mit Mode beschäftigt, aber weil sie lange Zeit nicht genügend Geld dafür gehabt habe, habe sie eben den Protagonisten ihrer Geschichten schöne Anziehsachen angedichtet. «Meine Figuren hatten da mehr Glück.»
Auf bescheidene Anfänge folgte Grosses, wenn auch sehr viel später: 2013 wurde Munro mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Für viele war ihre Ehrung eine Überraschung, für Fans – darunter Prominente wie Schriftstellerkollege Jonathan Franzen – eine überfällige Bestätigung. Am Montag ist die spätestens seit dem Nobelpreis weltweit verehrte Autorin im Alter von 92 Jahren in der Provinz Ontario im Osten Kanadas gestorben, wie der Verlag Penguin Random House Canada am Dienstag mitteilte.
«Die Welt hat eine ihrer grössten Geschichtenerzählerinnen verloren», schrieb der kanadische Premierminister Justin Trudeau via X zu einem Foto, das ihn gemeinsam mit Munro zeigt. «Alice Munro war fasziniert vom Alltagsleben in den Kleinstädten Kanadas. Ihre vielen, vielen Leser sind es auch. Sie wird sehr vermisst werden.» Auch ihre Familie bestätigte den Tod der Schriftstellerin. Munro habe schon seit Längerem an Demenz gelitten, teilte sie der kanadischen Zeitung «The Globe and Mail» mit.
Aus gesundheitlichen Gründen hatte sich die von jeher als scheu geltende Mutter von drei Töchtern, deren zweiter Ehemann kurz vor ihrer Nobelpreis-Ehrung starb, in den vergangenen Jahren immer stärker aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Schon zur Verleihung des Nobelpreises hatte sie 2013 nicht nach Stockholm reisen können. Stattdessen sagte sie in einer Videobotschaft: «Ich bin so dankbar für diese wunderbare Ehre, nichts auf der Welt könnte mich so glücklich machen.»
Ihren Ruhestand als Autorin hatte sie schon vor dem Gewinn des Nobelpreises verkündet. «Ich werde wahrscheinlich nicht mehr schreiben», hatte sie der kanadischen Zeitung «National Post» gesagt. «Es ist nicht so, dass ich das Schreiben nicht geliebt habe, aber man kommt in eine Phase, wo man über sein Leben irgendwie anders denkt.» Der Kurzgeschichtenband «Dear Life», in Deutschland 2013 unter dem Titel «Liebes Leben» erschienen, werde ihr letzter sein – und Munro hielt sich an diese Ankündigung.
Geboren wurde die Schriftstellerin, das älteste von drei Geschwisterkindern, 1931 auf einer Silberfuchsfarm in dem kleinen Ort Wingham in Ontario. Schon als kleines Mädchen habe sie Geschichten erfunden, erzählte die Autorin einmal in einem Interview. «Ich hatte einen langen Schulweg und währenddessen habe ich mir Geschichten ausgedacht.»
Das Aufschreiben und Veröffentlichen aber kam viel später. Ihren ersten Erzählband (deutscher Titel: «Tanz der seligen Geister») veröffentlichte Munro 1968 mit fast 40 Jahren. Die Zeit zum Schreiben rang die damalige Hausfrau und Mutter dem Alltag ab. Immer wieder setzte sie sich während des Kochens und während die Kinder schliefen oder in der Schule waren an ihren kleinen Sekretär. «Ich hatte schlicht zu wenig Zeit für das Schreiben, keine Zeit für grosse Würfe. Zur Kurzgeschichte fand ich also aus sehr praktischen Gründen.»
Ziel sei eigentlich immer ein Roman gewesen. «Über Jahre und Jahre dachte ich, dass die Geschichten nur Übung wären, bis ich endlich Zeit hätte, einen Roman zu schreiben», sagte Munro dem «New Yorker». «Dann habe ich herausgefunden, dass sie alles waren, was ich konnte, also habe ich mich damit abgefunden.» Selbst ihr einziges als Roman vermarktetes Werk «Kleine Aussichten» (1971) sah Munro «eigentlich als Sammlung zusammenhängender Geschichten».
Das Genre der Kurzgeschichten meisterte sie dafür aber so gut wie kaum jemand sonst. Munro belebte es, perfektionierte es, revolutionierte es gar – und bekam dann auch als erste quasi reine Kurzgeschichtenautorin den Literaturnobelpreis. Für Autorenkollege Franzen ist sie schlicht «die Beste», für ihre kanadische Kollegin und Freundin Margaret Atwood «eine Heilige der internationalen Literatur». Ein Literaturfestival in Kanada trägt ihren Namen.
Munros Geschichten, selten länger als 30 Seiten, gleichen sich alle. Und immer sind sie nahe an ihrem eigenen Leben, gespeist aus den Erfahrungen mit dem strengen, aber bücherverliebten Vater und der schwierigen Beziehung zur kranken Mutter. Es geht um Frauen, Mütter und Töchter in Ontario, die erwachsen werden, sich verlieben und die schönen und tragischen Seiten des Lebens kennenlernen. Munro ist Perfektionistin. «Ich will, dass meine Geschichten die Menschen bewegen.»
Dafür hatte ihr kanadischer Verleger schon Jahre vor der Auszeichnung den Literaturnobelpreis vorhergesagt. «Und ich wusste, wenn ich gewinne, wäre ich für eine halbe Stunde wahnsinnig glücklich, und danach würde ich denken: Was für eine Qual», sagte die überzeugte Calvinistin einmal in einem Interview. Denn Glück sei kein Preis. «Glück ist harte Arbeit.»