Zwei Wochen nach Libyens Katastrophe: Die grössten Herausforderungen
«Was ich gestern gesehen habe, ist unbegreiflich.» Mit diesen Worten beschrieb die UN-Nothilfekoordinatorin für Libyen, Georgette Gagnon, ihren Besuch im Katastrophengebiet. Vor zwei Wochen entlud Sturm «Daniel» über dem Osten Libyens extreme Regenfälle und führte nach Dammbrüchen zu gewaltigen Überschwemmungen. Rund 4000 Todesopfer wurden laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) bisher identifiziert, und diese Zahl dürfte noch deutlich steigen. Örtliche Behörden in dem Konfliktstaat sind mit der Lage überfordert, auch UN-Behörden und andere Hilfsorganisationen stehen vor enormen Herausforderungen. Dies sind einige der grössten:
LEBENSMITTEL – Die betroffenen Menschen benötigen Essen. Brücken und Strassen sind ebenso zerstört wie viele Silos und Lagerhäuser, was die Versorgung über Märkte erschwert. Fertiggerichte, Trockenrationen und Nahrungszusätze sind jetzt entscheidend beim Versuch, etwa bei Babys und jungen Kindern eine Unterernährung zu verhindern. Mit Lieferungen von 96 000 Tonnen Lebensmitteln erreichte das Welternährungsprogramm (WFP) bisher etwa 16 000 Menschen – angepeilt sind 100 000 Menschen über drei Monate. In der Stadt Darna wurden 80 Prozent der Märkte zerstört. In der Küstenstadt Susa ist die Fischerei stark betroffen.
WASSER – Der Zugang zu sauberem Wasser ist vielerorts unmöglich geworden. Das Kanalisationsnetz ist stark beschädigt, und oft ist nicht klar, wo Trinkwasser sich mit Abwasser vermischt hat. 150 Krankheitsfälle durch verunreinigtes Wasser wurden schon gemeldet – und die Zahl dürfte steigen. Verunreinigtes Wasser erhöht die Gefahr von Krankheiten wie Cholera, Typhus, Hepatitis A und Malaria. Bei der in Libyen bevorstehenden Regenzeit, die im Oktober beginnt und etwa drei Monate dauert, erhöht sich diese Gefahr weiter.
MIGRANTEN – Schon vor der Katastrophe lebten in Libyen etwa 700 000 Migranten. Viele von ihnen versuchen die lebensgefährliche Bootsfahrt nach Europa oder sind in Lagern unter anderem Folter und Zwangsarbeit ausgesetzt. Der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge sind nun 43 000 weitere hinzugekommen, die in Notunterkünften oder bei Verwandten, Freunden oder Gastfamilien unterkommen. Familien mit Kindern im Schulalter sorgen sich, dass ihre Kinder nicht mehr zum Unterricht können oder nicht mehr an Lehrmaterial kommen.
LEICHEN – Die Schätzungen zur Zahl der noch nicht entdeckten Leichen schwanken stark. Es könnten noch mehrere Tausend sein. Es braucht schweres Gerät und Suchtrupps, um sie aus Trümmern und Schlamm zu befreien oder im Meer zu finden. Diese Leichen müssen identifiziert, registriert und beerdigt werden. Die hohe Zahl an Toten erschwert ausserdem die Hilfe für Überlebende. «In Darna gibt es keine funktionierende Verwaltung mehr, auch aus dem traurigen Grund, dass unter den vielen Opfern vor Ort auch viele Mitarbeiter der Verwaltung sind», sagt Deutschlands Botschafter in Libyen, Michael Ohnmacht, der Deutschen Presse-Agentur.
ZUGANG – General Chalifa Haftar und seine sogenannte Libysche Nationalarmee (LNA) halten die strikte Kontrolle über den Osten samt Darna. Teils konnten Journalisten sowie Mitarbeiter von UN und auch Hilfsorganisationen nicht einreisen oder sich nur eingeschränkt bewegen. Die Telekommunikation wurde teils unterbrochen. Am Eingang zur Stadt Darna wurden Kontrollpunkte errichtet. Schon vor der Katastrophe bezeichnete die Organisation Reporter ohne Grenzen Libyen als ein «schwarzes Informations-Loch. Die meisten Medien und Reporter sind geflohen und haben das Land verlassen.»
POLITISCHE KONFLIKTE – In dem gespaltenen Land geht das Ringen zwischen den zwei verfeindeten Regierungen weiter. Schon jetzt laufe ein «Kampf um die Kontrolle über Milliarden libysche Dinar für den Wiederaufbau», schreibt Experte Wolfram Lacher von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) bei X, vormals Twitter. Die schon zuvor grassierende Korruption und Vernachlässigung der Bevölkerung, die mit zur Katastrophe beitrug, dürfte weitere Kreise ziehen. Experte Tarek Megerisi vom European Council on Foreign Relations spricht von einer «gierigen Führung», die jetzt «erneut nach Profit giert und sich dabei vor jeglicher Verantwortung drückt».