Ein Leben im Dienste des Helfens
Dr. Thomas Keller ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin. Nach knapp drei Jahrzehnten schliesst er seine Praxis in Pfäffikon. Leicht fällt ihm dieser Schritt sicher nicht. Es mangelt an einer Nachfolge, nicht aber an Erinnerungen und Erfahrung.
Thomas Keller, Facharzt für Kinderund Jugendmedizin, geht in Pension. Nach knapp drei Jahrzehnten schliesst er deshalb seine Praxis in Pfäffikon. Seinen Beruf übte er all die Jahre mit viel Liebe und Engagement aus. In die-ser Zeit erlebte er viel, Lustiges wie Trauriges. Stets ging es ihm darum, für Kinder und Eltern so viel wie möglich da zu sein. Das war sein Herzensziel. Als der Arzt seine Praxis 1995 eröffnete, gab es in den Höfen noch keine Kinderarztpraxis. Entsprechend gross war und ist der Andrang. Die Schliessung ist ein Verlust für die Region: Eine Nachfolge konnte Keller leider nicht finden. (mwa) Die Kinderarztpraxis Dr.
Keller in Pfäffikon. Seit 28 Jahren gibt es sie. Im Herbst ist Schluss. Der Mediziner ist 65. Er geht in Pension. Einen weissen Kittel trägt er nicht. Nie. Mache weniger Angst. Seine Praxis erinnert an ein nautisches Museum, Steuerrad, Leuchttürme, Netze. Da steht auch ein halbes Schiff. Sein Herzensziel über all die Jahre war für ihn zugleich Sinngebung des Berufs. «Für unsere kleinen Klienten und Klientinnen mit ihren Eltern so viel wie möglich da zu sein und einen guten Service zu erbringen.» Als Keller sie 1995 eröffnete, war es die erste Kinderarztpraxis im Bezirk Höfe. «Wir wurden förmlich überrannt. Ich war viele Jahre alleine, dann hatte ich noch Fachärzte sowie Kollegen zur Ausbildung hier. Ausserdem machten elf MPAs ihren Abschluss.» Wer ihn begleitete, waren die Patienten. Gewissermassen. «Man hat Kinder als Klienten, die dann später ihre eigenen Kinder bringen. Und die kommen dann mit den Grosseltern, den ehemaligen Eltern.» An die meisten kann er sich erinnern.
Matrosen und Erfahrungen
Kinder verhalten sich beim Arzt ganz unterschiedlich, von zutraulich bis ängstlich. Keller erzählt von einem Vierjährigen beim Untersuch. «Er sagte zu mir: ‹Ich kann im Fall auch Witze erzählen: Weisst du, was das ist, ein Matrose, der sich nicht wäscht? Ein Meerschweinchen.› Dann sagte er: ‹Ich weiss noch mehr Witze› und drehte sich zum Mami. ‹Du Mami, erzählst mir einen Witz, damit ich ihn dem Doktor erzählen kann?›» Doch Keller erzählt auch Unfassbares. «Es gibt Kinder, die werden mit dem Kinderarzt erzogen. ‹Wenn du jetzt nicht folgst, dann gehen wir zum Kinderarzt, und der gibt dir eine Spritze.› Ich habe lange gebraucht, bis ich diesen Verdacht überhaupt den-ken konnte. Und ich habe eine Mutter direkt darauf angesprochen. Sie sagte, ja, das stimmt, war total perplex. » Verdächtig schien dem Arzt, dass der Siebenjährige bereits am Eingang geschrien hatte. «Ein zweijähriges Kind fremdelt natürlicherweise, aber nachher können wir normal Kontakt aufbauen. Es sei denn eben, der Kontakt wird bewusst belastet. Aber nicht durch mein Zutun.» Haben Eltern selbst schlechte Erfahrungen mit Ärzten gemacht, übertrage sich das aufs Kind. «Aber wenn mir jemand misstraut, kann ich nicht arbeiten.» Wobei das die Ausnahme gewesen sei. «Üblicherweise sind es liebende Eltern, die vorbeikommen, damit ihrem Kind geholfen wird.»
Da ist auch Glück im Spiel
Die traurigsten Geschichten enden tödlich. «Wenn Sie ein Kind verlieren, ist das belastend und schmerzhaft, aber es passiert. Ich hatte ein paar Notfalleinsätze auf der Strasse. Wenn Sie als Erstversorger bei einem Schwerverletzten sind, vergehen 20 bis 30 Minuten, bevor Notarzt oder Rega kommen. Innert dieser Zeit sterben die, die nicht überleben können. Die ersten 30 Minuten sind Sie mit dem Schicksal alleine.» Das gilt nicht nur auf der Strasse. «Ich denke, ich hatte immer ein gutes Gespür für Krankheiten. Aber es gibt Dinge, die sind so undurchschaubar, dass man sie nicht mehr rechtzeitig behandeln kann. Es gibt Krankheiten, die einfach in kürzester Zeit zum Tod führen.» Egal wo. Auch auf der Intensivstation. «Ein Kleinkind mit Verdacht auf Infekt, es wurde sofort mit allen Mitteln eingegriffen, es starb trotzdem. Es gibt selten Situationen, da können Sie Vieles versuchen, aber es braucht eben auch ein bisschen Glück.»
Da ist Dr. Internet
Seine Art der Diagnostik? «Ich habe immer versucht, alles in Einklang zu bringen. Wenn es irgendwo ein Detail gab, das nicht hineingepasst hat, bin ich dem solange nachgegangen, bis es geklärt war. Aber ich habe immer gesagt, das Schicksal muss dir auch die Gelegenheit geben, Dinge zu erkennen. » Im Normalfall gelte die Regel: «Was häufig ist, ist häufig. Was selten ist, ist selten.» Psychosomatik sei für ihn immer eine Ausschlussdiagnose gewesen.
Knapp drei Jahrzehnte sind eine lange Zeit. 30 Jahre, in denen die Kindermedizin Fortschritte gemacht hat. Auch der Praxisalltag hat sich verändert. «Die Terminfindung ist viel komplizierter geworden.» Und dann ist da das Internet. «Viele lesen schon mal vorher im Internet und meinen, eine Idee zu haben, was es sein könnte. Manche sagen: ‹Ich möchte, dass Sie das und das machen.› Dann sage ich, ich schaue mir das erstmal an und erkläre Ihnen dann, wie wir vorgehen können.» Mit ihren Vorinformationen lägen die Leute in der Regel falsch. «Weil sie ja nicht werten können. Das, was Eindruck macht, sind die schlimmen Dinge. Die sind aber zum Glück selten. Also beginne ich meine Differenzialdiagnose nicht mit Krankheiten, die man vielleicht nie sehen wird. Den Eltern sage ich: Fragen Sie erst mich, und dann lesen Sie im Internet nach, ob ich recht haben könnte.» Gewachsen ist die Bürokratie. «Es wird immer mehr verlangt. Ich bin Arzt und Unternehmer. Ich muss die Leute führen, Löhne bezahlen, Berichte schreiben, medizinische Gutachten. Ich selbst habe in diesen 28 Jahren keine Lohnerhöhung gesehen, keine Tarifanpassung.» Früher habe er den Tag über Medizin gemacht und abends noch Büro bis um 22 Uhr. Junge Ärzte wollen das heute nicht mehr. Stich-wort: Work-Life-Balance. «Da rege ich mich schon seit Jahren drüber auf. Work wird gegenüber Life aufgewogen. Ich liebe meine Arbeit. Sie gibt mir weit mehr als bloss meine Existenz.»
Das Credo lautet helfen
Thomas Keller ist seit 1995 Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin. Er hatte zunächst eine Handelsschule besucht, war als Speditionsagent tätig. Nach der Matura auf zweitem Bildungsweg folgten Medizinstudium und Facharztausbildung. «Ich bin überzeugter Schulmediziner, komme von der klassischen Wissenschaft. Das war für mich auch immer die Sicherheit, nicht irgendetwas zu machen, was einem Menschen schaden könnte.» Das sei der Grund, warum er nie Homöopathie gemacht habe. «Ich sage nicht, das hat keinen Erfolg. Aber ich glaube, ihr Erfolg findet auf einer anderen Ebene statt. Es ist nicht das Wässerchen. Das ist nur ein Transporteur. Aber ich widerspreche keinem, der sagt, es hat mir geholfen. Weil die Realität hat immer recht.» Kellers Credo war stets zu helfen. Das gibt bisweilen viele Arbeitsstunden. Bis vor eineinhalb, zwei Jahren machte er keine Einschränkung des Gebiets. «Wenn es mich braucht, dann will ich für die Leute da sein.» Sein Job braucht auch Empathie. Aber für den Arzt stand das fachliche Wissen immer im Vordergrund. «Nur schön zu reden, das reicht mir nicht.»
Der Medizin treu bleiben
Seit Jahren bemüht sich der Kinderarzt um eine Nachfolge. Fündig wurde er nicht. Dahinter steckt ein vielschichtiges Problem. Man wolle heute gut verdienen, halbwegs geregelte Arbeitszeiten. «Das hat dazu geführt, dass ich immer mehr auch mit Männern konfrontiert war, die nur noch 60 Prozent arbeiten und nicht so viele Notfalldienste im Spital Lachen haben möchten.» Gab es denn Unterstützung seitens des Gesundheitsdepartements bei der Nachfolgersuche? Nein. Der Doktor holt aus, spricht von einer verfehlten Politik über Jahre. «Man wollte keine Mediziner mehr ausbilden, sondern lieber welche nehmen, deren Ausbildung von Deutschland oder Österreich bezahlt wurde.» Jetzt habe man eingeführt, dass alle, die aus dem Ausland kommen, erstmal drei Jahre institutionell in einer Klinik arbeiten müssen, bevor sie in eine Praxis dürfen. Das ist Unsinn, da müssen sie jetzt zurückrudern. Aber ich hatte keine Chance mehr, jemanden aus dem Ausland anzuwerben.» Diese Missstände zu erwähnen, ist Keller ein Anliegen. Seine Praxisschliessung trifft die Region hart. Genug Kollegen, um den Bedarf zu decken, hat es nicht. Aber einige Kinder- und viele Hausarztpraxen sind bereit, Patienten zu übernehmen. Dafür ist Keller sehr dankbar. Auch wenn es ihm schwerfällt, ohne Nachfolge die Praxis zu schliessen, schlechtes Gewissen hat er nicht. «Ich habe meine Arbeit über all die Jahre mit Leidenschaft gemacht. Ein bisschen arbeitet er vielleicht auch weiter. Im Katastropheneinsatz oder als Praxisvertretung. Ich habe nichts so lange gemacht im Leben, und ich verstehe einiges davon.»