Abendstunden auf dem Notfall
Wer im Spital Lachen auf der Notfallstation arbeitet, muss jederzeit auf das Schlimmste vorbereitet sein und sich immer wieder auf neue Situationen einstellen.
– IN MARCH UND HÖFEN –
Pflegende und Ärzte, die hektisch umherrennen, ohrenbetäubende Alarmgeräusche, überall Lichter, die aufblinken, Blut, das spritzt, Schmerzensschreie und abgetrennte Glieder. Dies schon einmal vorweg: Unser durch zahlreiche TV-Serien geprägtes Bild einer Notfall-Station entspricht nicht dem Normalfall. Zumindest nicht hier am Spital Lachen. Erstens, weil Personen mit Schwerstverletzungen in der Regel gar nicht erst nach Lachen gebracht werden, und zweitens, weil klare Strukturen und eingespielte Prozesse keine derartige Hektik aufkommen lassen.
Noch bevor ein Patient von den Rettungssanitätern in den Notfall gebracht wird, nimmt das Notfall-Team eine Einstufung vor. «Dies, um im Falle einer Überlastung oder wenn Ressourcen fehlen, schnell entscheiden zu können», erklärt Franziska Diet-helm. Die Leiterin Pflege der Notfallstation im Spital Lachen arbeitet bereits seit 21 Jahren auf dem Notfall und ist für 24 Mitarbeitende verantwortlich. Sie erklärt weiter: «Die Stufen 1 und 2 umschreiben Hochrisikofälle mit akut lebensbedrohlichen Indikationen wie Herzprobleme, Atemnot oder starke Schmerzen unbekannten Ursprungs.» In einem speziell eingerichteten «Schockraum» können wiederbelebende Massnahmen durchgeführt werden. Die Notfallstation verfügt auch über einen besonderen Raum für die Wundversorgung. Für notwendig werdende Operationen stehen zudem vier Operationssäle zum Parallelbetrieb zur Verfügung.
Neu eine eigene Hausarztpraxis
Schwere Fälle gebe es jeden Tag.60 Prozent aller Fälle auf dem Notfall sei-en jedoch wenig gravierend. Umgangssprachlich auch «Bagatell-Fälle» genannt. Aus diesem Grund habe man vor einem Jahr mit dem Aufbau einer spital-internen Hausarztpraxis begonnen, in welcher die Hausärzte der Region auf Wunsch ihren regulären Notfalldienst absolvieren können. Eine klassische Win-Win-Situation: Der oder die Hausärztin kann auf die gesamte Infrastruktur des Spitals zurückgreifen, gleichzeitig wird der Notfall unter der Woche entlastet.
An diesem Montagabend hat es das Team von Diethelm mit mehreren Fällen der Stufen 3 und 4 zu tun. Ein junger Mann mit Schnittverletzung wird gerade im Gipsraum behandelt, eine Frau mit Migräne wurde in einen dunklen Raum gebracht und erhielt ein Medikament gegen die Übelkeit. Mit dem Assistenzarzt bespricht Diet-helm, ob mehr Abklärungen nötig sind. «Nein», findet die erfahrene Pflegeleiterin. Der junge Arzt möchte aber einen Infekt ausschliessen und ord-net zur Sicherheit eine Laboruntersuchung an.
Dauerbelastung
Vergangenen Herbst war das Gesundheitssystem schweizweit stark überlastet. Die Aufhebung der Corona-Massnahmen hatte dazu geführt, dass viele Operationen nachgeholt werden muss-ten. Zusätzlich belasteten Corona-Patienten nach wie vor die Notfall-Stationen. Das war in Lachen nicht anders. «Wir hatten im letzten Jahr 20 Prozent mehr Notfälle als 2021», berichtet Diethelm. 15 000 Patientinnen und Patienten wurden 2022 hier behandelt. So viele wie noch nie. Zum Vergleich: Noch vor zehn Jahren waren es knapp 10 0000 Patienten. Es komme leider vor, dass der Platz auf dem Notfall nicht ausreiche. Die Triage entscheide dann, wer mit einem Platz auf dem Gang vorlieb nehmen müsse. Unschöne Dilemma-Situationen. Diethelm beobachtet, dass die Hemmschwelle, einen Notfall aufzusuchen, seit der Pandemie kleiner geworden ist: «Viele sind unsicher, was auch verständlich ist.»
«Wettrüsten» ums Personal Neben dem hohen Patientenaufkommen tragen aber auch der Fachkräfte- und der Hausärztemangel zur Belastung bei. Auf der Notfallstation Lachen sind in der Pflege 1,7 Stellen unbesetzt. «Ich schreibe Stellen aus und finde eigentlich niemanden », verdeutlicht Diethelm. Zwischen den Spitälern herrsche ein regelrechtes «Wettrüsten» ums Personal. «In der Pflege ist es derzeit so, dass man schon am nächsten Tag an einem anderen Ort anfangen kann.» Aus der Not heraus greife man auf Temporär- Mitarbeitende zurück, welche aufgrund des Mangels aber hohe Ansprüche stellen können. «Sie können vorgeben, wann sie arbeiten möchten. » Für Diethelm frustrierend, weil sie dafür bei ihren eigenen Mitarbeitenden weniger Zugeständnisse machen kann. «Ich muss Kompromisse eingehen, die ich gar nicht möchte.» Die Notlage habe aber auch ihr Gutes, so seien neue Arbeitsmodelle entstanden. Zum Beispiel die sogenannten Kleinstpensen. «Nur so können wir den Betrieb aufrecht erhalten.»
Patienten mit hohen Ansprüchen
Die Pandemie hat auch im Operationssaal ihre Spuren hinterlassen. «Sie hat das gesamte Gesundheitssystem ermüdet», sagt Alexander Browa, Leitender Arzt Traumatologie des Spitals Lachen. Der Unfallchirurg arbeitet seit zehn Jahren am Spital Lachen. Auch er betrachtet die aktuelle Situation mit Sorge. «Gefühlt bewegen wir uns seit geraumer Zeit am oberen Rand der Leistungsfähigkeit. Das Klatschen mag keiner mehr hören, das reicht einfach nicht mehr.» Zu Beginn der Pandemie sei ein extremer Zusammenhalt spürbar gewesen. Man habe alle Kräfte mobilisiert. Sehr schnell seien eine zweite und eine dritte Notfall-Station aufgebaut worden. Und die Leute seien dankbar gewesen. «Es gab Geschenke und es wurde Pizza vorbeigebracht.» Diese Dankbarkeit erlebe man noch hie und da bei individuellen Begegnungen, doch allgemein habe sie abgenommen. Gleichzeitig sei die Erwartungshaltung gestiegen, beobachtet Browa. «Die Patienten sehen sich heute – von den Spitälern zum Teil selbstverschuldet – mehr als Kunden denn als Patienten und möchten auch entsprechend sofort behandelt werden.» Probleme der Gesellschaft widerspiegeln sich auf dem Notfall. Psychische Erkrankungen, Alkohol- und Drogensucht, Einsamkeit und Verwahrlosung sind Themen, die Diethelm und ihr Team schwer beschäftigen. Weil auch die Psychiatrien überfüllt sind, kann es je nachdem lange gehen, bis Patientinnen und Patienten überführt werden können. «Das ist für alle Beteiligten problematisch», sagt Imke Poepping, Leitende Ärztin Medizin. Je nach Zustand und Verhalten der Patienten müsse auch mal die Polizei dazugeholt werden.
Bei Gewalt- oder Sexualverbrechen kommt am Spital Lachen eine «Forensic Nurse», wie Janine Bachmann eine ist, zum Einsatz. Das komme etwa drei bis vier Mal pro Monat vor. Bachmann hat die Ausbildung vor zwei Jahren abgeschlossen. Ihre Aufgabe ist die Fotodokumentation. Für die Spurensicherung ist das Institut für Rechtsmedizin in Zürich zuständig. Eine Meldepflicht hat Bachmann nur, wenn es sich um lebensbedrohliche Verletzungen handelt. Wenn sie einen Miss-stand bemerkt, sucht sie in einer ruhigen Umgebung das Gespräch mit den Betroffenen und berät diese. Strafanzeige bei der Polizei einreichen dürfen aber nur die Betroffenen selbst.
Beim Verlassen des Notfalls begegnet mir ein etwa 12-jähriger Junge mit bleichem Gesicht. Sofort nimmt sich ihm jemand an. Währenddessen kontrolliert Franziska Diethelm via Monitor die Werte ihrer kritischsten Patientinnen und Patienten. Alles in Ordnung. Die Arbeit geht weiter …