Nach der WM reichts nur noch für chinesische Suppe
Gegen Ende der zweiten Woche kommt die Eishockey-WM in Riga endlich in Fahrt. Doch die Menschen in Lettland haben andere Sorgen. Das gilt auch für den Sport.
Auf den ersten Blick könnte man sich fast wie in der Ukraine fühlen. An jeder Tür eines Trams oder Stadtbusses klebt unübersehbar eine ukrainische Flagge, vor jedem öffentlichen Gebäude weht die ukrainische Fahne. Blau-Gelb ist fast öfter zu sehen als das lettische Weinrot. Wären da nicht die Eishockey-Fans.
Die ganz grosse Euphorie gibt es allerdings nicht, die echten Farbtupfer in der Stadt sind die bunt gekleideten Fans aus der Slowakei, Tschechien und der Schweiz. Langsam nimmt die Begeisterung zwar zu, auch weil die Letten nach zwei Niederlagen zum Start nun viermal in Folge gewonnen haben und am Dienstagabend gegen die Schweiz um den erstmaligen Einzug in die WM-Viertelfinals seit 2018 spielen.
Zu teuer für den normalen Letten
Ein Grund für die enttäuschenden Zuschauerzahlen sind die Ticketpreise. 48 Euro kosten die schlechtesten Plätze, unter 89 Euro pro Spiel geht es kaum. In einem der ärmsten Länder der EU mit einem durchschnittlichen Monatseinkommen von rund 1200 Euro, das wirtschaftlich stark unter den Verwerfungen durch Corona und den Krieg in der Ukraine leidet, sind das horrende Preise. «Was bezahlst du», fragt der lettische Lausanne-Stürmer Ronalds Kenins. «Essen oder Wohnung? Wenn eine Familie mit zwei Kindern zur WM kommen will, kann sie danach einen Monat nur noch chinesische Suppe essen.»
Die Viertelfinal-Qualifikation wäre lediglich eine Momentaufnahme. Der Krieg in der Ukraine hat das eng mit Russland verflochtene Land in eine Krise gestürzt. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg strömten viele Menschen aus dem Rest der Sowjetunion in den baltischen Staat, zwischen 1945 und dem Kollaps des kommunistischen Staatengebildes stieg die Bevölkerung von 1,8 auf fast 2,7 Millionen an, Russisch wurde die dominierende Sprache. Mit der Unabhängigkeit 1991 kehrten die Machtverhältnisse wieder radikal. Wer nicht Lettisch sprach, wurde nicht Bürger des neuen Staates.
Auch heute noch spricht über ein Drittel der Einwohner Lettlands zuhause Russisch, aus dem Strassenbild Rigas sind die kyrillischen Schriftzeichen aber komplett verschwunden. Mittlerweile ist die Bevölkerungszahl wieder auf den Stand von 1945 gesunken. Manche Russen kehrten dem Land den Rücken, viele gut ausgebildete Junge suchten ihr Glück in der EU.
Folgenschwerer Bruch mit Russland
Dennoch blieben die Verbindungen zu Russland gerade im Eishockey eng. Als die «Sbornaja» 2014 ihren bislang letzten WM-Titel feierte, standen mit Olegs Znaroks und Harijs Witolinsch zwei ehemalige lettische Nationalspieler an der Trainerbande. Dinamo Riga spielte seit deren Gründung 2008 in der Kontinental Hockey League (KHL). Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist dies nicht mehr möglich. Lettland gehört gemessen an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu den grössten Unterstützern der Ukraine.
Der Bruch mit der einstigen Kolonialmacht hat drastische Folgen für das Eishockey. Das Niveau der heimischen, halbprofessionellen Liga ist bescheiden, die Spieler, die konnten, wechselten ins Ausland. Noch schlechter sieht es beim Nachwuchs aus.
«Bis zur Stufe der 14-Jährigen ist das Niveau sehr gut», betont Nationaltrainer Witolinsch, der als Spieler und Trainer unter anderem in Chur, Rapperswil-Jona und Davos aktiv war und seither in der Schweiz wohnt. «Aber danach haben wir keine gute eigene Meisterschaft mehr.» Während vieler Jahre kamen deshalb junge lettische Spieler zur Ausbildung in die Schweiz.
Keine Ausbildung in der Schweiz mehr
Nach fünf Jahren in Nachwuchsmannschaften galt man als Lizenz-Schweizer und belastete das Ausländerkontingent in der National oder Swiss League nicht. Vom aktuellen lettischen WM-Kader sind mit Kenins und Goalie Ivars Punnenovs (beide Lausanne), Deniss Smirnovs (Kloten) und Toms Andersons (La Chaux-de-Fonds) gleich vier Spieler diesen Weg gegangen.
Im Zuge der Erhöhung der Ausländerplätze fällt diese Regelung aber in drei Jahren. Für die Letten fällt damit ein Weg zur Ausbildung im Ausland weg. Aktuell bemüht man sich um eine vermehrte Zusammenarbeit mit Finnland, je ein Aktiv- und Juniorenteam konnten die letzte Saison in dortigen Ligen absolvieren. Was wäre die ideale Lösung? Kenins lacht und sagt: «Ihr fragt mich, wie wenn ich ein Politiker wäre.»
Einfacher ist die Ausgangslage für das Spiel vom Dienstagabend (19.20 Uhr Schweizer Zeit). Während es für die Schweiz als Gruppensieger sportlich um nichts mehr geht, braucht Lettland voraussichtlich einen Punkt für die Viertelfinals. Ein spezielles Spiel ist es sowieso: «Ich bin schon länger in der Schweiz als in Lettland», stellt der 29-jährige Toms Andersons fest.