UN-Vollversammlung: Genozid-Vorwürfe und Kritik an deutschen Panzern
Ein Jahr nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine hat eine Debatte der UN-Vollversammlung die Kluft zwischen den Kriegsparteien erneut offengelegt.
Ein Jahr nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine hat eine Debatte der UN-Vollversammlung die Kluft zwischen den Kriegsparteien erneut offengelegt.
Während der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba Russland bei dem hochrangig besetzten Treffen in New York am Mittwoch (Ortszeit) Völkermord vorwarf, sagte Russlands UN-Botschafter Wassili Nebensja, der Westen wolle sein Land «zerstückeln und zu zerstören». UN-Generalsekretär António Guterres warnte unterdessen vor einer Ausweitung des Konflikts und dem Einsatz von Atomwaffen. An diesem Donnerstag soll auch Bundesaussenministerin Annalena Baerbock vor der Vollversammlung sprechen.
Ein Jahr nach Kriegsbeginn stellte Kuleba vor dem grössten UN-Gremium eine Resolution mit der Forderung nach Frieden und dem Rückzug Moskaus vor, die am Donnerstag beschlossen werden soll. Der Entwurf bekräftigt eine Reihe zuvor bereits abgestimmter Positionen der Vollversammlung wie die territoriale Integrität der Ukraine. Kiew und seine Unterstützer wollen damit an ähnliche Abstimmungsergebnisse des vergangenen Jahres mit mehr als 140 «Ja»-Stimmen anknüpfen – das soll auch dem Eindruck entgegentreten, es gebe in Teilen der Welt eine Kriegsmüdigkeit und bröckelnden Rückhalt für Kiew.
Kuleba prangerte in seiner Rede die massenhafte Verschleppungen ukrainischer Kinder durch Moskau an. Russland deportiere Tausende Kinder, um sie von russischen Familien adoptieren und zu Russen umerziehen zu lassen. «Das ist ein Völkermord, und dem stehen wir heute gegenüber». Moskau hatte ähnliche Vorwürfe zuletzt dementiert. Die Ausreise vieler Ukrainer nach Russland wird als Flucht aus der Kampfzone dargestellt. Auch die Verschleppung von Kindern wird von russischer Seite trotz gegenteiliger Belege bestritten. Wenn Kinder nach Russland gebracht werden, wird dies oft mit medizinischer Behandlung oder Erholung begründet.
Russlands Vertreter Nebensja nahm derweil auch Deutschland und den Westen ins Visier und warf ihnen ähnliche Motive wie im Zweiten Weltkrieg vor. «Dies ist ein Krieg, der, wie es auch vor 80 Jahren der Fall war, einen verräterischen und mächtigen Feind involviert, der unser Land übernehmen und uns unterwerfen will». Der Westen wolle unter anderem mit der Bewaffnung der Ukraine das Ende Russlands erreichen. «Die deutschen Panzer werden wieder einmal Russen töten», sagte Nebensja.
UN-Chef Guterres zog nach zwölf Monaten Krieg eine pessimistische Bilanz: «Im vergangenen Jahr haben wir nicht nur Leid und Verwüstung wachsen sehen, es wird auch immer deutlicher, wie viel schlimmer alles noch werden könnte». Die möglichen Folgen einer Konfliktspirale seien eine klare und gegenwärtige Gefahr. «Inzwischen haben wir implizite Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen gehört. Der sogenannte taktische Einsatz von Atomwaffen ist absolut inakzeptabel.»
Die amerikanische UN-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield warb für die Annahme der Resolution: «Uns liegt eine Entschliessung vor, die die Nationen der Welt dazu aufruft, die diplomatischen Bemühungen um einen umfassenden und dauerhaften Frieden in der Ukraine zu unterstützen», sagte sie. EU-Chefdiplomat Josep Borrell betonte, es handle sich bei dem Krieg nicht um eine «europäische Angelegenheit» – «Es geht auch nicht um den Westen gegen Russland. Nein, dieser illegale Krieg betrifft alle: den Norden, den Süden, den Osten und den Westen.»
Hinter den UN-Kulissen wurde in den vergangenen Monaten diskutiert, wie substanziell eine Resolution zum Jahrestag der Invasion sein könne. UN-Kreisen zufolge hatte die Ukraine an Resolutionen gearbeitet, die ein Kriegsverbrechertribunal umreissen sowie an einem Text, der einen Zehn-Punkte-Friedensplan des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in ein UN-Dokument überführen würde. Beide Ideen wurden für die Abstimmung, die am Donnerstag erwartet wird, aufgegeben.
In dem nun vorliegenden Text tauchen eher vage Formulierungen zum Ende des Krieges auf: Das Erreichen eines umfassenden Friedens, der notwendig sei, würde «einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit leisten», heisst es. Im Weiteren wird ein vollständiger Austausch von Kriegsgefangenen verlangt und die Notwendigkeit betont, dass Verantwortliche für die schwersten Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden müssten.
Diplomaten zufolge scheint ein Ergebnis mit einer Zustimmung von über 130 oder erneut 140 Ländern möglich. Das Votum wird für den Donnerstagnachmittag (Ortszeit) erwartet.