«Schmaler Grat»: Gewalt in Nahost flammt erneut auf
Nach dem tödlichsten Militäreinsatz seit Jahren im Westjordanland hat sich die Gewalt in Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten erneut hochgeschaukelt.
Nach dem tödlichsten Militäreinsatz seit Jahren im Westjordanland hat sich die Gewalt in Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten erneut hochgeschaukelt.
Bei einer israelischen Razzia im Westjordanland waren am Donnerstag neun Palästinenser getötet und Dutzende verletzt worden. In der Nacht auf Freitag feuerten daraufhin verbündete militante Gruppen aus dem Gazastreifen mindestens fünf Raketen auf Israel ab. Israelische Kampfflugzeuge zerstörten danach in der Küstenenklave unter anderem eine unterirdische Raketen-Produktionsstätte.
Angst vor einer weiteren Eskalation
Die Gewaltspirale schürt Befürchtungen vor einer weiteren Eskalation der ohnehin schon angespannten Sicherheitslage. «Wir bewegen uns auf einem ganz schmalen Grat», sagte Michael Kobi vom israelischen Institut für Nationale Sicherheitsstudien (INSS) der Deutschen Presse-Agentur. Die Dynamik könne nicht mehr vollständig kontrolliert werden und jederzeit kippen. Bedenklich sei vor allem, dass sich immer mehr junge Palästinenser dem Aufstand anschliessen und bereit seien, zu kämpfen – und zu sterben. «Sie sind frustriert und bereit, alles zu tun, um ihre aktuelle Situation zu verändern.»
Tagsüber am Freitag blieb es verhältnismässig ruhig. Freitagsgebete auf dem Tempelberg in Jerusalem verliefen unter starker Polizeipräsenz ohne grössere Vorfälle. Das Gelände ist seit langem ein Brennpunkt des israelisch-palästinensischen Konflikts. Auch an den Grenzen zum Gazastreifen ging der normale Betrieb weiter.
Hochburg militanter Palästinenser
Am Tag zuvor kam es an mehreren Orten im Westjordanland zu gewaltsamen Zusammenstössen. Auslöser war eine israelische Razzia bei der sich die Soldaten mit militanten Palästinensern in der Stadt Dschenin ein Feuergefecht lieferten. Neun Palästinenser wurden dabei getötet, darunter mehrere Mitglieder der militanten Palästinenserorganisation Islamischer Dschihad. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Betselem war es der tödlichste Militäransatz in dem Gebiet seit mehr als 20 Jahren.
Dschenin liegt keine 80 Kilometer Luftlinie von Jerusalem entfernt und gehört zu den allein von der Palästinensischen Autonomiebehörde kontrollierten Zonen. Die Stadt gilt als Hochburg militanter Palästinenser. Diese sind eng mit Gruppierungen im Gazastreifen verknüpft. Der vom Iran finanzierte Islamische Dschihad ist dort hauptsächlich aktiv und greift Israel von der Küstenenklave regelmässig mit Raketen an. Ob die Organisation für die Raketenangriffe am Freitag verantwortlich ist, war zunächst unklar.
Schlichtungsversuche
Berichten aus dem Gazastreifen zufolge bemühten sich Ägypten und der Golfstaat Katar am Donnerstag und Freitag unter Hochdruck, eine weitere Eskalation zu vermeiden. Auch aus den USA kamen bereits Forderungen zur Deeskalation. Kommende Woche wird US-Aussenminister Antony Blinken in der Region erwartet. Dabei stehen auch Gespräche mit den israelischen und palästinensischen Führungen an. Ein Sprecher des US-Aussenministeriums teilte mit, alle Parteien müssten zusammenarbeiten, um weitere Todesfälle zu verhindern.
Chancen auf Friedenslösung sinken weiter
Die Kooperation mit Israel in Sicherheitsfragen kündigte die Palästinensische Autonomiebehörde am Abend bereits auf. Als Grund nannte die Behörde einseitige Schritte und Massnahmen Israels im Westjordanland sowie die Vorfälle in Dschenin. Ähnliche Ankündigungen hatte die Autonomiebehörde schon bei früheren Gelegenheiten gemacht – sie wurden allerdings de facto nicht umgesetzt.
Seit fast einem Jahr kommt es im Westjordanland beinahe täglich zu tödlichen Konfrontationen zwischen israelischen Sicherheitskräften und Palästinensern. Seit einer Serie von Anschlägen, die Palästinenser im Frühjahr verübt haben, unternimmt Israels Armee dort vermehrt Razzien. Allein in diesem Jahr wurden in dem Zusammenhang oder bei eigenen Anschlägen rund 30 Palästinenser getötet, unter ihnen fünf Jugendliche.
Verhandlungen über eine dauerhafte Friedensregelung liegen seit 2014 brach. Die mangelnden Fortschritte und der fortwährende Ausbau israelischer Siedlungen sorgen in den Palästinensergebieten für starke Frustration. Einer neusten Umfrage zufolge befürworten so wenige Israelis und Palästinenser eine Zwei-Staaten-Lösung wie noch nie seit rund 20 Jahren.
Netanjahus rechte Regierung
Ob die neue rechte Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu einer Beruhigung der Lage beitragen kann, bleibt fraglich. Sein Polizeiminister, Itamar Ben-Gvir, kündigte bereits mehrfach ein härteres Vorgehen gegen militante Palästinenser an. Soldaten und Polizisten im Dienst will er Immunität vor Ermittlungen verschaffen. Der rechtsextreme Politiker ist zudem glühender Verfechter des israelischen Siedlungsausbaus. Dieser soll laut den Leitlinien der Koalition weiter vorangetrieben werden, was den israelisch-palästinensischen Konflikt noch weiter anheizen dürfte.