Draghi drängt auf Gas-Boykott
Mario Draghi beschränkt seine Auftritte vor den Medien auf ein Mini-mum – aber wenn er einmal Journalistinnen und Journalisten um sich
Mario Draghi beschränkt seine Auftritte vor den Medien auf ein Mini-mum – aber wenn er einmal Journalistinnen und Journalisten um sich versammelt, redet Italiens Regierungschef in der Regel Klartext. So auch am Mittwochabend, als er die Finanzplanung vorstellte, die stark von den Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine geprägt ist – und die über den Haufen geworfen werden könnte von einer Massnahme, die sich der Premier selber immer dringlicher wünscht: von einem Gas-Boykott der EU gegen Russland. «Wir müssen uns fragen, was wir vorziehen: Wollen wir den Frieden – oder wollen wir den ganzen Sommer die Klimaanlage laufen lassen?» Draghi liess keinen Zweifel, wie er persönlich diese Frage beantworten würde; er hatte schon letzte Woche klipp und klar gesagt, dass die EU mit ihren Gasimporten Russlands Krieg finanziere. Deshalb würde sich Italien ohne zu zögern einem EU-weiten Boykott anschliessen. Laut dem früheren EZB-Präsidenten ist in dieser Sache so-gar ein italienischer Alleingang möglich: «Wir warten auf einen Entscheid der EU in den nächsten Tagen, aber es gibt auch die Möglichkeit von nationalen Massnahmen.» Vom Bremser zum Vorreiter
Bei Kriegsausbruch und der Formulierung des ersten Sanktionspakets hatte Draghi, zusammen mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz und einigen kleineren Ländern, ebenfalls noch zu den Bremsern gezählt und erfolgreich darauf gedrängt, die Energielieferungen aus Russland von den Sanktionen auszunehmen. Doch angesichts der immer offensichtlicher werdenden Gräueltaten und Kriegsverbrechen der russischen Armee in der Ukraine hat Italiens Premier seine Meinung radikal geändert. Je schrecklicher dieser Krieg werde, desto dringlicher müsse sich die EU die Frage stellen, was sie tun könne, um ihn zu beenden, betonte Draghi.
Draghi spricht sich für den Gas-Boykott aus, obwohl Italien ähnlich abhängig von russischen Gaslieferungen ist wie Deutschland. 60 Prozent des elektrischen Stroms wird in Gaskraftwerken erzeugt. Weil zudem fast alle Italiener mit Erdgas heizen und kochen, ist der Anteil dieses Energieträgers am nationalen Energiemix entsprechend hoch: Er beträgt 42 Prozent. Der EU-Durchschnitt liegt bei nur 25 Prozent. Etwa 40 Prozent des importierten Gases stammen aus Russland.
Ersatz im Detail geplant
Angesichts dieser Zahlen erscheint ein Embargo abenteuerlich. Doch Draghi ist zuversichtlich, sich rasch aus der Abhängigkeit von Russland befreien zu können. «Bis Oktober hätten wir keine Probleme, selbst dann, wenn die russischen Lieferungen von heute auf morgen ausfallen sollten», erklärte Draghi am Mittwoch. Er verwies auf die nationalen Gasreserven, die bereits wieder zu 30 Prozent gefüllt sind.
Sehr konkret sind auch die Pläne, wie die jährlich 28 bis 30 Milliarden Kubikmeter Erdgas aus Russland mittelfristig ersetzt werden können. Roberto Cingolani, Minister für ökologische Transition, sagt: «15 bis 25 Milliarden Kubikmeter können wir bereits dieses Jahr ersetzen.» Den Löwenanteil würden stark erhöhte Importe aus Algerien und Libyen ausmachen: Die beiden Länder haben bereits zugesagt, zusammen elf Milliarden Kubikmeter zusätzlich an Italien zu liefern. Zudem könnte mehr Gas aus Aserbaidschan eingeführt werden. Daneben könnte Italien die eigene Gasproduktion forcieren: Vor 20 Jahren förderte das Land auf verschiedenen Gasfeldern vor seiner Küste und auf dem Festland noch 20 Milliarden Kubikmeter Gas; im vergangenen Jahr waren es nur noch etwas mehr als drei Milliarden Kubikmeter. Die Produktion hochfahren sollen auch die drei Flüssiggasterminals in La Spezia, Livorno und Rovigo; zudem plant Cingolani den Kauf oder die Miete von zwei schwimmenden Terminals. In einem, höchstens zwei Jahren könnten laut dem Minister auf diese Weise weitere zehn Milliarden Kubikmeter zusätzlich ins Netz eingespeist werden.
Hinzu kommt der im Rahmen des EU-Wiederaufbaufonds ohnehin geplante, massive Ausbau erneuerbarer Energiequellen. Diverse Milliarden Kubikmeter müssten zudem gar nicht ersetzt werden. Sie könnten eingespart werden – eben mit dem von Draghi als Beispiel angeführten Verzicht auf Klimaanlagen, aber auch mit der Einschränkung der öffentlichen Beleuchtung, mit strengeren Tempolimits, dem Ausbau und der Verbilligung des öffentlichen Verkehrs – und, wenn nötig, mit der temporären Rationierung von Gas und Strom.