«Aktionärsdemokratie wie im Koma»
Einmal im Jahr geben sich die börsenkotierten Schweizer Unternehmen und ihre Aktionäre ein Stelldichein: an der Generalversammlung, die
Einmal im Jahr geben sich die börsenkotierten Schweizer Unternehmen und ihre Aktionäre ein Stelldichein: an der Generalversammlung, die meistens im Frühling stattfindet. Die Unternehmen geben oft mehrere hunderttausend Franken aus, um diese Veranstaltungen durchzuführen. Ganze Eventhallen werden gemietet, festlich geschmückt und mehrgängige Menüs werden aufgetischt. Gerade für Kleinaktionäre ist es die einzige Gelegenheit, der Geschäftsleitung Fragen zu stellen. Als wichtiges Element der Aktionärsdemokratie sind Generalversammlungen darum obligatorisch.
Doch mit der Pandemie wurden Grossanlässe verboten – und damit auch die GV. Deshalb stellte der Bundesrat in Artikel 27 der Covid-19-Verordnung eine Lösung bereit: Veranstalter dürfen die Versammlungen ohne Aktionäre durchführen, sofern diese ihre Rechte per Brief, E-Mail oder durch einen unabhängigen Stimmrechtsvertreter ausüben können. Das heisst: Aktionäre müssen nicht mehr an der GV dabei sein, sie müssen nur noch die Möglichkeit haben, ihre Voten im Voraus mitzuteilen. Sebastien Dubas von der Stiftung Ethos weist zwar darauf hin, dass manche Firmen vergangenes Jahr Online-GV durchgeführt und dabei Fragen zugelassen hätten, doch das sei die Ausnahme.
GV im stillen Kämmerlein
Offenbar haben die Unternehmen Gefallen am Artikel 27 gefunden. Denn nun sind zwar alle Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie aufgehoben, trotzdem flattert noch fast jede Einladung mit den Worten «Die Veranstaltung findet ohne physische Präsenz der Aktionäre statt» ins Haus. Gerade einmal zwei der 20 Firmen im Schweizer Leitindex SMI haben ihre Aktionäre 2022 zu einer physischen GV eingeladen, bei dreien ist die Einladung noch ausstehend. Alle anderen haben die GV im stillen Kämmerlein abgehalten oder tun das noch. Etwas besser sieht es im Gesamtmarkt aus: Von den 80 GV, die bis Ende April noch auf der Agenda stehen, findet etwa ein Viertel mit physischer Präsenz statt.
Ist das überhaupt noch legal? «Ja, Generalversammlungen ohne physische Präsenz der Aktionäre sind nach wie vor erlaubt», erklärt Wirtschaftsrechtsexperte Peter V. Kunz. Und zwar noch bis Ende des Jahres, danach tritt das neue Aktienrecht in Kraft, wodurch Artikel 27 verfällt.
Sparen und weniger Fragen
«Dass es legal ist, heisst aber noch lange nicht, dass es auch gut ist», sagt Kunz. Er ist der Meinung, dass das Abhalten von GV ohne Anwesenheit der Aktionäre deren Informationsrechte beschneidet. «Die Aktionärsdemokratie liegt im Koma! Die Möglichkeit, dass Aktionäre Fragen stellen, an der GV ihren Standpunkt darlegen und eine Diskussion starten können, ist blockiert», sagt er. Dass die Aktionäre ihre Fragen schriftlich im Voraus einreichen können, reiche nicht.
Wie Kunz sieht das auch Dubas: «Aktionärinnen und Aktionäre müssen die Möglichkeit haben, sich während der Generalversammlung öffentlich und direkt an den Verwaltungsrat zu wenden und Fragen zu stellen», sagt er. Doch genau die Fragen sind laut den Experten der Hauptgrund, warum sich die Gesellschaften überhaupt so vor Präsenz-GV drücken. «An diesen Events kommen natürlich zum Teil auch sehr kritische Fragen von Kleinaktionären. Indem man die GV ohne Aktionäre durchführt, vermeidet man Aktionärskritik», so Kunz.
Ein weiterer Grund, warum sich die Unternehmen nach wie vor gegen Generalversammlungen vor Ort entscheiden, ist laut Kunz die Kostenersparnis: «So eine Veranstaltung kann gut einen sechs- oder siebenstelligen Betrag kosten», sagt er. Gerade wenn eine Firma ihre Ausgaben senken muss, ist das von Belang. Dialog mit Aktionären zentral
Die Geldersparnis ist laut Kunz zwar der nachvollziehbarere Grund als die Vermeidung von Fragen. «Aber am Ende sind beides schlechte Begründungen, um auf eine physische GV zu verzichten. Denn eine Publikumsgesellschaft lebt schliesslich davon, dass sie mit ihren Aktionären in Dialog tritt.» Dubas von Ethos hofft, dass die Firmen «in Zukunft entweder physische Generalversammlungen organisieren oder Live-Fragen online zulassen ». Mit dem neuen Gesetz ab nächstem Jahr dürfte sich diese Hoffnung erfüllen: «Mit dem neuen Aktienrecht gibt es zwar nach wie vor die Möglichkeit, virtuelle Generalversammlungen durchzuführen, dafür braucht es aber eine statutarische Grundlage», erklärt Kunz. Das heisst, dass die Aktionäre dann mitbestimmen können, ob sie beispielsweise die Möglichkeit einer virtuellen oder einer hybriden GV zulassen wollen.